Ein neues Leben

Eine Wiener Geschichte

Die graue Wolkendecke war aufgerissen und so plötzlich wie der Regen herausgeprasselt war, stachen jetzt die Strahlen der Sonne hindurch, tauchten die frisch gewaschenen Straßen und Gebäude in gleißendes Licht. Glitzernde Tropfen bedeckten wie Millionen Brillianten Pflanzen, Autos und Fassaden. Gerade in solchen Momenten liebte ich mein Wien. Schnell zahlte ich die Rechnung und verließ das Café, in das ich mich kurzerhand geflüchtet hatte. Ich saugte den regenfeuchten Duft tief ein, schnupperte dem auslaufenden Sommer hinterher und augenblicklich überwältigten mich Glücksgefühle. Wie schön das Leben doch war. Aber war es das wirklich?

Jedenfalls genoss ich meine kleine Fluchten, sie ließen mich für eine Weile den grauen, manchmal schon schwarzen Alltag vergessen. Ich war krankgeschrieben. Noch wussten die Ärzte nicht, was mit mir war und ich selbst hatte keine Eile, die Diagnose zu erfahren. Den Termin für heute hatte ich geschoben, die mahnenden Worte der Assistentin in den Wind geschlagen. Das würde auch noch zwei Tage warten können, sagte ich mir, sprach erst gar nicht mit meiner Frau darüber, die mit sorgenvoller Miene, aber weniger mit dem Blick auf mich als auf ihren Job, in aller Frühe die Wohnung verlassen hatte. Fast war ich froh, daheim bleiben zu können. Den Gedanken an Arbeit ließ ich gar nicht erst an mich heran. Ich duschte ausgiebig, spülte die düsteren Träume der Nacht in den Abfluss, versuchte sogar ein Lied zu trällern, doch das konnte ich mir selbst nicht antun. Wie das Pfeifen im Walde, dachte ich kopfschüttelnd und drehte den Hahn auf „kalt“ – das sicherste Mittel gegen schläfriges Dauerduschen. Dabei war Disziplin das letzte, was mir fehlte. Auch heute Morgen würde ich mich penibel rasieren, eine gute Garderobe zusammenstellen und einen ausgedehnten Spaziergang durch die Stadt machen. Was sollte ich auch daheim? Da würde mir nur die Decke, wenngleich hoch und stuckverziert, auf den Kopf fallen.

Drei Stationen später stieg ich am Karlsplatz aus, zusammen mit einer ganzen Horde eifrig wirkender Studenten, wahrscheinlich Erstsemester. Wie ich sie um ihre Frische, ihre Neugier auf das neue, immer noch junge Leben, ja selbst um ihre Schüchtern- und Unsicherheiten beneidete. Aber dafür noch einmal alles von vorne erleben? Niemals! Wenn, dann nur in einem ganz anderen Leben. Doch so etwas gab es leider nicht…

Mal sehen, wie sich meine Heimatstadt heute zeigte. Der Herbst war jedenfalls nicht mehr zu übersehen und damit auch nicht die wieder wachsende Zahl an Touristen, die es gerade zu dieser Jahreszeit so gern hierher zog. Der Kultur, aber auch des „morbiden Charmes“ wegen, mit dem so mancher Reiseprospekt beinahe reflexhaft warb. Nein, diese Stadt ist alles andere als morbide. Und auch wenn sich mit den „typischen“ Wiener Errungenschaften, den berühmten Cafés, den altehrwürdigen Bauten und Museen, nicht zu vergessen den inflationären Schnitzeln und dem meist überteuerten Wein, kräftig Geld verdienen ließ, ist Wien vor allem eines: eine weltoffene Stadt. Trotz der dem gemeinen Touristen häufig noch zur Schau gestellten verzopften Arroganz, in seiner humorvollen Ausprägung auch als „Schmäh“ bemäntelt, sind die Menschen hier weitaus liebenswürdiger und liberaler als in den meisten anderen Städten der Republik. Dafür tauschte ich den Rummel um Mozart nur allzu gern mit den Salzburgern, um nur ein Beispiel zu nennen…

Ich musste blindlings durch die belebte Straße gegangen sein. Unversehens fand ich mich am Leopoldsbrunnen wieder, hatte den Stephansplatz mit dem imposanten Dom unbewusst gleich rechts liegen lassen. Verwundert blickte ich mich um, dann fielen die ersten Regentropfen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sich der Himmel zugezogen hatte und leider musste ich außerdem feststellen, dass ich meinen Schirm daheim vergessen hatte. Überall klappten welche auf, legten die Passanten einen Schritt zu. Ich kehrte um, lief zurück Richtung Stephansplatz und gerade als das Tröpfeln in einen wahren Wolkenbruch überging, erreichte ich, keine Sekunde zu früh, das Café an der Ecke, eines der moderneren Kaffeehäuser Wiens, das vor allem durch seine Lage mit Blick auf den Dom besticht. Draußen unter der Plane war kein Platz mehr frei, also ging ich hinein und setzte mich auf einen Barhocker an die Theke. Der Kaffee ließ eine Weile auf sich warten. Als er endlich vor mir stand, hatte der Regen schon wieder nachgelassen. Kaum dass ich die Tasse geleert hatte, kam auch schon wieder die Sonne heraus, ließ die reich verzierte Fassade des Stephansdoms erstrahlen. Ich legte einen Fünfer auf den Tresen und eilte nach draußen.

Jetzt zog es mich doch auf den Platz, ich brauchte Menschen um mich herum, den Trubel des Alltags – alles, nur nicht mich selbst. An der Nordseite des Doms bog ich nach rechts ab, vorbei an Fiakern mit gelangweilten Kutschern und müden Pferden. Da sah ich sie! Gerade als ich die Dombuchhandlung passierte, trat die Frau heraus, zog den Riemen ihrer Umhängetasche über die linke Schulter und wandte sich Richtung Schulergasse. Vom ersten Moment an gefiel mir ihre Art zu gehen, gemessenen Schrittes, in den Hüften wiegend, beinahe tanzend, aber nicht schlendernd, sondern aufrecht und fast schwebend. Für eine Tänzerin war sie zu groß – ich liebte große Frauen – und ihr beigefarbener Mantel war gut ausgefüllt, auch das zog mich – obwohl ich selbst auf mein Gewicht achtete – beinahe magisch an. Ihr Gesicht hatte ich nur kurz im Profil gesehen, sie trug ihr schulterlanges, blondes Haar offen, es fiel glatt und glänzte so frisch, fast golden, als wäre sie eben noch beim Friseur gewesen. Plötzlich blitzte es vor meinem Gesicht, mir wurde schwarz vor Augen, ich drohte zu fallen. Das hatte ich in letzter Zeit häufiger. Ich stützte mich mit der Hand gegen die Fassade, wartete den schwachen Moment ab, der bisher glücklicherweise immer nur kurz gedauert hatte. Ich atmete tief ein und aus. Bevor mich jemand ansprechen konnte, löste ich mich von der Wand, stand nun wieder fest und setzte mich vorsichtig in Bewegung. Zufrieden spürte ich, wie die Lebensgeister zurückkamen. Mehr noch, ich fühlte mich erstaunlich frisch und munter. Aus dem Augenwinkel nahm ich noch wahr, wie sich mehrere Menschen am Eingang der Buchhandlung versammelten. Doch mich zog es in die Schulergasse. Eilig bog ich um die Ecke.

Unweit von mir stand die Frau vor einem Schaufenster. Erneut zögerte ich. Doch bevor ich nachdenken konnte, setzte sie sich wieder in Bewegung. Was war eigentlich in mich gefahren, warum folgte ich dieser Frau? Sie hat zufällig denselben Weg, sagte ich mir. Aber hatte ich denn überhaupt einen Weg? Jetzt ja, stichelte mein unartiges Alter Ego. Ich musste grinsen. Warum eigentlich nicht? Ich würde einfach schauen, sie von hinten bewundern. Und wenn die Frau irgendwo abbog oder einen Laden betrat, würde ich sie in Ruhe lassen. Andererseits… In mir arbeitete es. Diese Frau hatte es mir eindeutig angetan und schon häufiger war in mir ein verrückter Gedanke aufgekeimt: Was, wenn ich einfach meine vertrauten Bahnen, meine Grundsätze verließe, mal etwas ganz Verrücktes täte, ohne jeden Plan, ohne große Überlegung? Und weiter: Was, wenn es möglich wäre, das eigene Leben zu verlassen und einfach in das eines bis dahin fremden Menschen zu springen? So wie ein Zeitreisender durch die Geschichte würde ich von einem Leben zum nächsten ziehen, würde es natürlich beeinflussen, vielleicht bereichern, das traute ich mir zu, wenngleich ich das Risiko des Scheiterns auch nicht leugnen wollte. Im Grunde ist wohl alles ganz gut so wie es ist… Ist es das? Abermals wischte ich die bedrückenden Gedanken beiseite und folgte weiter dieser reizenden Frau.

Schritt um Schritt verliebte ich mich mehr in ihre Erscheinung, stellte mir vor, wie ich sie einholte, meine Hand in ihre schob, ihre Überraschung mit meinem gewinnenden Lächeln parierte und sie charmant in das Café dort drüben einlüde. Vielleicht würde sie ihre Hand zurückziehen, mich mithilfe ihrer Tasche in die Flucht schlagen. Aber vielleicht würde sie mein Lächeln auch erwidern, mich interessiert anschauen und meiner Einladung schließlich folgen. Diese Vorstellung erregte mich. Du spinnst, sagte ich mir, während ich ihr unablässig, wenngleich mit angemessenem Abstand folgte. Jetzt betrat sie tatsächlich einen Laden. In Ordnung, das war’s. Ich beschleunigte meinen Gang, willens diese kleine Phantasterei ad acta zu legen. Im Stadtpark würde ich mich in die Sonne setzen und mit einem Eis erfrischen. Kopfschüttelnd passierte ich den Laden – fast. Denn ausgerechnet in diesem Moment trat die blonde Frau auf die Straße, blieb stehen und wollte mir den Vortritt lassen. Doch da kannte sie mich schlecht. Höflich trat ich einen Schritt zurück, wies einladend in ihre Richtung. Sie lächelte mich freundlich an und setzte ihren Spaziergang fort.

Ich brauchte einen Moment. Was war das? Diese Augen, der Mund! Was für eine Frau! So jung, wie sie von hinten schien, war sie nicht mehr. Und doch war ihre Schönheit makellos. So gewinnend, dass ich nicht anders konnte, als ihr – nach einem kurzen abwesenden Blick auf die Damenmode im Schaufenster – immer weiter zu folgen. Von meinem Leben in das der Frau springen, mit ihr leben, alles, was war, hinter mich lassen, ohne Erinnerung, den Blick nur noch nach vorne, auf diese wunderbare Frau, auf ein glückliches Leben mit ihr, in ihrer geräumigen und zweifellos geschmackvoll eingerichteten Altbauwohnung. Bestimmt lebte sie allein, hier ganz in der Nähe, denn so bewegt sich nur eine ortskundige Städterin durch die Gassen. Ich sah das alles klar vor mir, mein neues Leben gewann mit jedem Schritt an Schärfe. So verliebt war ich inzwischen in meinen Gedanken, dass ich abermals blind war für meine Umgebung und gar nicht bemerkt hatte, dass die Innere Stadt bereits hinter uns lag. Grünlich schimmernd tauchte die Donau vor mir auf, die Frau steuerte auf die Brücke zu. Mir wurde schwindlig. Nein, jetzt aber wirklich! Hier endete mein Traum. Unmöglich konnte ich der Frau auch noch über den Fluss in die Leopoldstadt folgen.

Immerhin schien sie mich bis jetzt nicht bemerkt zu haben, jedenfalls nicht als Verfolger. Oder ging sie mir inzwischen absichtlich und wissentlich voraus, hatte sie meine Gedanken womöglich gespürt, sie empfangen? Wenn sie die besondere Frau war, für die ich sie hielt, war nichts mehr unmöglich, dachte ich, und dennoch war ich unsicher. Mit dem Mut der Verzweiflung betrat ich die Brücke, musste mich fast beeilen, denn meine Angebetete näherte sich bereits dem anderen Ufer. Doch dann stoppte sie abrupt, trat an das Geländer, setzte ihre Umhängetasche ab und zog ihren Mantel aus, den sie über die Brüstung legte. Sie würde doch nicht? Hier, am hellichten Tag? Jetzt zog sie auch noch ihre Schuhe aus, öffnete ihre Tasche. Ich beschleunigte meine Schritte und hielt doch gleich wieder an. Zu meiner Erleichterung holte die Frau ein paar Sneakers hervor, schlüpfte in diese hinein und verstaute ihre Pumps in der Tasche. Dann nahm sie ihren Mantel, legte ihn über die Tasche und zog sich den Riemen wieder über die Schulter. Ihre weiße Bluse strahlte grell im Sonnenlicht, blendete mich fast. Ich musste blinzeln. Hatte sie gerade kurz nach hinten geschaut, zu mir rüber? Weit und breit waren keine anderen Fußgänger unterwegs, nur die Autos rauschten mit lauten Motoren an mir vorbei. Ich grübelte. Hatte die Frau mich entdeckt? Was würde sie als nächstes tun, mich stellen, mich gar anzeigen?

Und wenn schon! Trotzig ging ich weiter, jetzt galt es die Fassung zu bewahren, sich nichts anmerken zu lassen. Wer sagte denn, dass ich nicht auch in der Leopoldstadt wohnte oder dort jemanden besuchen wollte. Zur Not würde ich die Adresse eines Bekannten nennen, der tatsächlich im zweiten Bezirk wohnte. Oder ich würde wahrmachen, was ich mir vorhin so lebendig ausgemalt hatte. Spontane Gelassenheit erfasste mich, ich fühlte mich leicht und jung. War das Leben nicht wundervoll? Alles ist möglich, du musst nur fest daran glauben – der ewige Mutmacher-Satz. Fast hätte ich frohgemut gepfiffen, denn jetzt hatte auch ich das Ende der Brücke erreicht. Die Frau bewegte sich leichten Schrittes keine hundert Meter voraus. Trotz ihrer Sneakers hatte ihr Gang nichts an seiner tänzerischen Eleganz eingebüßt. Im Gegenteil.

Von der Straße zweigte eine Gasse im spitzen Winkel ab. Die Frau war bereits um die Ecke gebogen, ich musste aufpassen, sie nicht zu verlieren. Sie konnte nur allzu schnell in einem Hauseingang verschwinden, dann wäre nur noch Detektivarbeit gefragt – bei der Vielzahl an Wohnungen nur mit sehr beschränkter Aussicht auf Erfolg. Abermals ging ich schneller. Endlich erreichte ich die Ecke – und erschrak. Da stand sie, die Schöne, direkt vor mir! Tatsächlich lehnte sie an einer alten Tür, die sie bereits geöffnet hatte, und lächelte mich strahlend an. Sie hatte auf mich gewartet! Ich wusste nicht, wie mir geschah, als dieser bezaubernde Engel, die Hand nach mir ausstreckte. „Komm“, flüsterte sie, griff nach meiner Hand, hielt sie sanft in ihrer und zog mich behutsam ins Haus. In diesem Augenblick begannen wir zu schweben. Kein Zweifel: Alles würde genau so sein, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mein neues Leben hatte gerade angefangen.

©Martin Bensen