Vielleicht bin ich verliebt. Vielleicht auch nicht. Verknallt. Na, irgendwas ist da. Muss ja. Mein Herz klopft ganz stark, wenn ich sie sehe. Immer morgens, auf dem Schulweg, auf dem Fahrrad, wenn sich unsere Wege kreuzen, ich zu meiner Schule fahre und sie zu ihrer – in entgegengesetzte Richtungen. Es sind nur Augenblicke, morgens, ein, zwei Sekunden, ein gleichzeitiges Hallo, fast in gleicher Tonhöhe, ich bin gerade erst im Stimmbruch. Wir lächeln uns zu, ihr Mund ist schön, ihre langen rotblonden Haare, die im Fahrtwind wehen, warum fahre ich eigentlich so schnell? So schnell vorbei.
Die findet dich gut, hat mein Bruder gesagt. Weißt du das sicher?, habe ich gefragt. Hat sie gesagt, hat er gesagt, nicht mir, aber Margret. Ihrer Cousine – unserer Cousine. Die habe ich dann nicht gefragt. Zu feige. Ja, wir sind verwandt, aber nicht blutsverwandt. Das wäre ein Problem. Immerhin aber verwandt – macht es das leichter? Ich habe sie schon eine Weile im Blick. Bei der letzten Familienfeier haben wir Fangen gespielt. Wie gern habe ich sie gefangen, wie viel lieber mich von ihr fangen lassen. Wir haben immer sofort losgelassen, als schämten wir uns. Dann habe ich mich versteckt, extra so schlecht, dass sie mich als erstes finden musste, und als das natürlich passierte, ist mein Glied steif gewesen, mein Kopf rot, ihrer auch. Muss weitersuchen, hat sie gestottert. Ob ich das noch gebacken kriege? Mal länger reden, länger mit ihr zusammen sein, das wär’s!
Manchmal sehe ich sie in der Kirche, samstagabends. Sie mag es wohl, wie ich, dass man dann sonntags nicht mehr muss. Unsere Blicke treffen sich. Obwohl ich das gar nicht so genau erkenne, so weit sitzt sie weg. Das letzte Mal hat meine Mutter meine Haare frisiert. Wenn schon über den Ohren, dann auch gepflegt, hat sie gesagt und mir Föhnrollen nach innen gekämmt. Mein Bruder hat gelacht, mich Frau Lindemann genannt, nach irgendeiner biederen Serienfigur. Ich habe mich aber gar nicht geschämt, habe im Gegenteil kaum gewagt, meinen Kopf zu bewegen, um die Frisur nicht zu zerstören. Während der Messe habe ich gezweifelt, verstohlen mein Haar verwuschelt, es mit den Händen an die Ohren geklatscht, weil ich plötzlich sicher gewesen bin, dass sie meine lockigen, sogar fettigen Haare besser findet. So waren sie jedenfalls immer, wenn sie mich gesehen hat; was habe ich mir nur dabei gedacht?
Immer wieder sehe ich sie vor mir, unter dem Kirschbaum im Garten ihres und meines Onkels: Sie steht einfach nur da, reglos wie eine Statue, und blickt nach Westen, zu den alten Bahngleisen hin, auf denen mein Vater als Kind noch Züge gesehen hat, gezogen von Dampfloks, Güterzüge mit Panzern, auch mit Soldaten, erst die deutschen, später die alliierten, vor allen hatte er Angst, denn der Krieg brachte das Sterben bis an diesen Garten. Nichts davon jetzt, dreißig Jahre später. Der Abend ist friedlich, die Sonne geht unter, lässt ihr Haar feuerrot aufflammen. Ich weiß, dass wir bald gehen müssen. Doch ich kriege keinen Ton heraus. Schon stören die anderen, toben um uns herum, quengelig und müde.
Ob ich sie endlich geknutscht habe, hat mein Bruder auf dem Heimweg gefragt, hämisch, er merkt genau, wie schüchtern ich bin. Warum nur? Ist es Angst, mich zu blamieren? Wenn mein Herz so klopft, haut es meine Gedanken weg, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll, dann habe ich Angst, zu stottern, Unsinn zu reden. Warum sagt denn sie nichts? Wenn sie mich wirklich gut findet, dann soll doch sie den Anfang machen. Oder hat sie ebenfalls Angst? Warum darf ein Mädchen nicht den Anfang machen? Ob ich doch mal meine Cousine frage? Besser nicht. Am Tisch habe ich neben ihr gesessen und neben ihr sie. Sie haben mich gar nicht beachtet, haben nur geschwatzt und gelacht – und sie hat mich kein einziges Mal angesehen. Mein Selbstbewusstsein lag dann irgendwo unter dem Tisch. Ja, tretet es ruhig mit Füßen, jede Berührung ist besser als keine.
Abends im Bett schlafe ich mit ihr ein, natürlich nur in Gedanken, oft mit einem schönen Gefühl, für das ich ein wenig Hand anlege, still und heimlich, wie gut, dass ich endlich ein eigenes Zimmer habe, aber die Wände sind dünn. Morgens wache ich mit ihr auf, mein Herz beginnt zu klopfen, während ich vor dem Spiegel stehe, das fettige Haar durchkämme, um meine Mutter zufriedenzustellen, um es aber gleich auf dem Fahrrad durchzustrubbeln und den Fahrtwind den Rest machen zu lassen. Ich fahre immer etwas früher los, mein Bruder schüttelt schon gar nicht mehr den Kopf darüber. Er weiß, was meine Mutter weiß, was alle wissen, auch sie, die mir gleich wieder begegnen wird, nämlich dass ich sie absichtlich abpasse, sie sehen will, wenigstens diesen einen kurzen Moment, so furchtbar gerne länger – und woanders. Will sie es nicht auch?
Und was, wenn ich einfach stoppe, sie anspreche, mich ihr direkt in den Weg stelle? Zu feige. Hallo, sagt sie, lächelt und fährt vorbei. Habe ich Hallo gesagt? Oder war ich nur damit beschäftigt, mich endlich zu überwinden. Diesmal trägt mich die Begegnung nicht durch den Tag. Nachmittags schiebe ich die Hausaufgaben beiseite, versuche endlich, ihr einen Brief zu schreiben. Wie schreibt man einen Liebesbrief? Neulich im Deutschunterricht hat eine Klassenkameradin ein Liebesgedicht vorgelesen, unsere Hausaufgabe, ich fand es schön, doch die anderen Jungs haben sich die Mäuler zerrissen und nur spöttisch gegrinst. Dabei weiß ich, wie sie alle für die Vorleserin schwärmen, sie ist frühreif, hat einen großen Busen, auf den sogar die Lehrer starren. Und sie hat einen Freund, der schon älter ist und ein Moped hat. Was haben sie geglotzt, die Maulhelden! Dann Albert, einer aus der Streberfraktion, er hat als nächstes gelesen, leider gestottert, die Worte sind aber auch schwülstig gewesen. Als hätte er sie aus alten Gedichten zusammengesucht und in eine Gleichung gepackt, wie eine Matheaufgabe. Rechnen kann er ja. Völlig zu Recht haben alle gegrinst, einige laut aufgelacht, die Lehrerin hat nichts gesagt, was dann auch für sich gesprochen hat. Die Pausenklingel hat uns schließlich erlöst. Gut, dass ich mein Gedicht nicht vorlesen musste. Andererseits … Ich war eigentlich stolz darauf. Ob ich es ihr …?
Wieder fahre ich an ihr vorbei mit nur einem Lächeln, einem dürren Hallo. Dabei habe ich so viel zu sagen. Habe ich das? Habe ich nicht vielmehr Angst, sie könnte genauso reagieren wie meine Klasse auf Albert, den sie alle nur noch Albern nennen. Labern ginge auch, wäre ein Anagramm und ebenso treffend. Soll ich mir etwas mit Anagrammen ausdenken? Albern! Lass es einfach, sei ein Mann, hab endlich den Mumm, sie zu stellen! Morgen!
Ich zittere schon, als ich das Rad aus dem Schuppen schiebe. Ich bin noch früher dran als sonst. Vielleicht zu früh für sie. Und wenn ich sie verpasse? Umdrehen? Und wenn sie das dann sieht? Peinlich. Ich kann nicht langsam fahren, dann zittert auch mein Lenker, das sieht erst recht blöd aus. Was für eine Memme bin ich eigentlich? Schon bin ich an ihrer Straße, wage es kaum, nach rechts zu sehen. Aber da ist auch niemand. Ich fahre weiter. Wie dumm kann man sein? Und doch bin ich erleichtert. Dann eben morgen. Morgen ist auch noch ein Tag.
Doch nachmittags erfahre ich von meinem besten Freund, dass er sie mit jemandem gesehen hat. Sie hätten geknutscht und Händchen gehalten, ganz eindeutig. Nein, ganz sicher sei sie es gewesen, sie und dieser Typ, auf den alle Mädchen im Ort gerade abfahren. Ich weiß, wen er meint, flüstere seinen Namen, mein Freund nickt und sieht mitleidig zur Seite. Oder merke ich da auch Schadenfreude? Ich weiß, dass er sie auch hübsch findet, und obwohl er es nie gesagt hat, spüre ich, dass er mich für feige hält – zumindest in diesem Fall, wo ich doch weiß, dass sie auf mich steht – gestanden hat.
Abends denke ich nicht an sie – Quatsch, natürlich tue ich das. Nachts träume ich kein bisschen von ihr – noch größerer Quatsch, die ganze Zeit träume ich von ihr, wie in einem Fiebertraum, der sich ständig wiederholt. Am nächsten Morgen bleibe ich länger am Frühstückstisch sitzen, kriege aber nichts runter. Mein Bruder und meine Mutter sehen mich fragend an, schweigen jedoch. Diesmal starten wir gemeinsam. Mein Bruder sagt immer noch nichts, nimmt an der Hauptstraße jedoch den anderen Weg. Als hätte er es geahnt. Da ist sie! Wieso so spät? Sie kommt näher, ich weiß nicht, was ich sagen soll, sie sagt Hallo, lächelt, ich sage nichts, lächle nicht. Im Augenwinkel sehe ich ihren überraschten, zugleich enttäuschten Blick, spüre ihn in meinem Rücken, drehe mich nicht um. Tränen lassen die Straße vor mir verschwimmen. Ich wische sie wütend aus den Augen, trete noch wütender in die Pedalen.
Ich nehme jetzt immer den anderen Weg. Eigentlich ist er auch kürzer. Nur wenn ich spät dran bin, gehen die Schranken am Bahnübergang herunter. Doch auch dann warte ich lieber den Zug ab, als den anderen Weg zu nehmen, ihren Weg – den Weg der Begegnung.
Erst viele Jahre später sehe ich sie wieder. Mit einem Kinderwagen. Sie ist stämmig geworden, trägt ihr Haar aber nicht kürzer wie viele andere junge Mütter, die das nun praktischer finden. Neben ihr geht jemand. Ich erkenne ihn wieder, meinen Konkurrenten von damals. Was heißt schon Konkurrent? Er hat alles richtig gemacht, vielleicht war er einfach schon reifer als ich. Jetzt ist er ihr Mann, Vater ihres Kindes, und so sieht er auch aus. Sein Gesicht wirkt käsig, blass wie sein ganzer Kopf, den nur noch spärliches Haar bedeckt. Beide wirken sie müde, aber auch irgendwie zufrieden. Ihre Blicke sind auf den Kinderwagen gerichtet, wachsam, aber auch verliebt. Verliebt in ihr Kind, das jetzt zu schreien beginnt. Abrupt halten sie an, beugen sich über den Korb. Ich gehe an ihnen vorbei, sage Hallo, lächle ihnen zu. Lächle ins Leere.