Ein böser Duft

Erst hatte er sie gar nicht bemerkt. Sie kam schleichend. Und so kann er jetzt, am Ende seines Leidens nicht mehr sagen, wann alles begonnen hatte und vor allem wie. Die Ursache für seine Hypersensibilität würde er nicht mehr erfahren. Es hätte ihn interessiert, nicht weil er noch an eine Therapie oder gar Heilung geglaubt hätte, sondern einfach, um wenigstens wissend abzutreten. Zwar hätte ihm dieses Wissen keine Macht gegeben, aber es hätte jene Macht abgemildert, die die seltsame Krankheit über ihn hatte.
Er war nie hochsensibel. Ein Mann in den besten Jahren, mitten im Leben stehend. Quacksalberei interessierte ihn ebensowenig wie unnötiges Wissen. Er war immer geradeaus. Seine Freunde und Kollegen schätzten genau das an ihm, denn er war berechenbar, jedenfalls mehr als die meisten von ihnen. Das erste Mal traf es ihn wie ein Donnerschlag.
Er weiß noch, wie er kurz vor Mittag am Flussufer gejoggt war, den eigenen Schweiß in der Nase, aber auch die vielen Wohlgerüche, die der Frühling feilbot: Blütenduft, der Geruch nach frisch gemähtem Gras, nach Biergärten, altem Fett und Pommes – Düfte seiner Kindheit. Das alles liebte er. Manchmal blieb er kurz stehen und sog ein, was die Abzugshauben nach draußen bliesen, nicht ohne die Aufmerksamkeit der ersten Gäste auf sich zu ziehen, die ihn mehr oder weniger verstohlen und kopfschüttelnd musterten. Spottet nur, dachte er, ihr esst doch, was ich hier rieche. Weiter, sagte er sich, wofür schinde ich mich, wenn nicht für eine solche Sünde. Später …
Er dachte an die Pommesbude seiner Heimatstadt. Was war das immer für ein Fest, wenn seine Eltern ihm zwei Mark in die Hand drückten, damit er sich eine Schale Pommes mit Mayo holen konnte und eine Brause dazu. So selten, wie er in diesen Genuss kam, so einzigartig war der Geschmack. Nie wieder kam eine Pommes und selbst eine Mayonnaise an diese Sinnesfreuden von damals heran. Er hatte sein Festmahl immer zelebriert, sich dazu auf das kleine Stück Wiese gegenüber der Imbissbude gesetzt, und während er Stäbchen für Stäbchen in den Mund schob, den vorbeirollenden Verkehr beobachtet. Der Diesel der Lastwagen hatte anders gerochen als heute, ebenso das Benzin der Autos und die öligen Zweitakter-Abgase. Aber alles war eins gewesen, reinste Kindheit.
Kaum dass er sich wieder in Bewegung setzte, merkte er, wie ihn auch jetzt die Gerüche übermannten. Konnte das sein? Immerhin lag ein gepflegter Garten zwischen Uferpromenade und Straße, eine Hinterlassenschaft der Landesgartenschau vor einigen Jahren. Aber nicht die Blumen nahm er jetzt wahr, sondern Diesel- und Benzinabgase, vermischt mit dem Duft aus dem Abluftrohr der Biergartenküche. Er konnte nicht weiter. Wieder saß er am Straßenrand seines Heimatortes. Wieder schmeckte er die Pommes mit Mayo, gewürzt mit den Abgasen der nahen Straße. Dann war es vorbei. Und er wieder im Biergarten. Eine Frau stand bei ihm, hatte seinen Arm gepackt, und jetzt merkte er, wie sehr er schwankte. Er möge sich doch kurz setzen, ihr Tisch stehe im Schatten, ob sie ihm ein Glas Wasser bestellen solle?
Er riss sich los, murmelte ein „Sorry“ und rannte so schnell er konnte geradewegs nach Hause. Dort verlor er keine Zeit, stieg aus den Schuhen und stellte sich noch in seinem Lauftrikot unter die Dusche, als könnte er das Erlebte einfach abbrausen, seinen Körper dekontaminieren. Aber von was? Er beschnupperte das klatschnasse Trikot, zog es mit Mühe über seinen Kopf und warf es in die Duschwanne. Ebenso die Hose und die Socken. Wie von Sinnen trampelte er darauf herum, seifte seinen ganzen Körper ein, wusch sich dreimal die Haare, um plötzlich innezuhalten. Was soll der Unsinn? War nicht alles wunderschön gewesen? Doch ja … Aber nicht die Macht, mit der die Sinneseindrücke sich regelrecht in ihn bohrten, als ob nicht nur die Riechzellen seiner Nase, sondern alle Sinne, alle Poren seiner Haut diese Gerüche, diesen einen großen Duft seiner Kindheit gierig aufsaugen wollten. Das ist zu viel! Das Wasser würde helfen, die Seife – aber Moment mal! Wie ein Hund beschnupperte er seine Haut, dann den Spender und schließlich auch die Shampooflasche. Alles wie immer!
Langsam beruhigte er sich. Dann war das eben wohl nur eine Verirrung, nichts Schlimmes, eine Überreizung. Vielleicht eine Reaktion auf die seltsame Zeit, in der wir gerade leben, eine Überreaktion des entwöhnten Körpers … Die letzten Meter hatte er sich in einem Tunnel gewähnt. Er hatte an dieses Buch gedacht, in dem sich alles um ein hypersensibles, übermenschliches Geruchsvermögen drehte, um die Jagd nach dem einen, menschlichen Geruch, „das Parfum“, das dem Duftjäger und mordenden „Parfumeur“ unbegrenzte Macht verleihen sollte. Er erinnert sich an alles, obwohl er dieses Buch vor einem halben Leben gelesen hatte. Der Schock machte ihm alles wieder gegenwärtig, und die Angst, die auch jetzt nicht vollstädnig weichen wollte, eine nagende Sorge, er können genauso werden wie dieser Grenouille.
Obwohl er am liebsten die Fenster weit aufgerissen hätte, zögerte er im letzten Moment. Was, wenn ihn diese Gerüche bis hierher verfolgten, ihn wieder heimsuchten? Von der Straße hinter dem Haus, den nahen Gärten und dem Biergarten weiter flussabwärts. Die schöne Sicht musste reichen, so sehr er den ersten lauen Frühlingsabend auch genossen hätte. Jetzt war er froh, wieder alleine zu leben. Alle Trennungsschmerzen lagen lange hinter ihm, die nassgeweinten Kissen, das sich abnutzende Schnuppern an Briefen, Gegenständen und an dem vergessenen Flakon, in dem nur noch eine Ahnung ihres Parfums war – ein Hauch, der verflog wie alles, was ihm sie noch zurückzubringen vermochte, denn die Erinnerungen verblassten auf dieselbe traurige Weise wie die Gerüche. Jetzt gab ihm dieser Umstand, der Lauf des Lebens, Hoffnung, bestärkte ihn in der Ansicht, dass er sich alles nur eingebildet hatte und dass eben nichts von Dauer ist, so wenig wie das Leben selbst. Und die Liebe.
Er musste lachen, schalt sich laut brüllend einen Hornochsen. So alt war er noch nicht. Und wer war er denn, als eben der, den so schnell nichts umhaute, der mit beiden Beinen im Leben stand? Mit voller Kraft riss er alle Fenster auf, ließ das Draußen zu sich herein, atmete mehrmals tief ein. Endlich Frühling! Alles ist vertraut. Was war er nur für ein Idiot gewesen! Vom frisch gemähten Rasenstreifen des Ufers wehte ein feiner Duft nach Heu herüber. Er liebte diese süßen Aromen von Sommer und unbeschwerter Kindheit. So sehr, dass er einmal freiwillig bei der Heuernte geholfen hatte, was ihm so nachdrücklich in Erinnerung geblieben ist, dass er die Bilder auch jetzt entstehen lassen konnte: die große Wiese, den Traktor, der die Heuballen produzierte, den Wagen, auf den er und sein Freund, beide erst acht Jahre alt, sie hievten, was ihnen nicht nur schmerzende Muskeln, sondern auch rote Pusteln einbrachte. Abends war seine Nase zu und sein Kopf heiß. Ob daher das Wort „Heuschnupfen“ kam? Er vergass das schnell. Was blieb, war einer der glücklichsten Sommer seines Lebens.
Die Tage vergingen, Arbeit türmte sich in seinem Homeoffice auf, die Isolation trieb ihn immer wieder hinaus auf die Promenade, auch wenn er um die Biergärten und Cafés fortan einen Bogen machte. Und so begrub er den Vorfall bald in den toten Winkel seines Gedächtnisses, dorthin, wo er alle schlechten Gedanken verbannte. Das hatte er immer gekonnt. Er genoss den Hochsommer, den er auch diesmal zu Hause verbringen würde. Sollten sie doch alle wieder reisen, sich in die engen, miefigen Flugzeugkabinen zwängen, sich wieder anstecken an ihren Ausdünstungen. Das Wetter war auch hier schön und selbst der Sommer in der Stadt hatte seine reizvollen Seiten, jetzt wo alles wieder offen war. Warum hatte er daran nicht früher gedacht? Die FFP2-Masken hielten viel ab, auch die zu starken Gerüche und allzu üblen Gestank. Nun gut, nicht vollständig, aber immerhin so, dass er nicht unerwartet davon überwältigt werden konnte. Wenn er ehrlich war, war er immer schon ein Sensibelchen gewesen, nur dass er diese Eigenschaft als unbedingtes Geheimnis vor allen verbarg, sogar vor sich selbst. Es hätte sein Image zerstört, aber vielleicht seine Liebe gerettet …
Düfte hatten ihm immer viel bedeutet. Sie setzten sein Kopfkino in Gang, ließen Vergangenes gegenwärtig werden, wie Moschus und Musk seine erste große, vielleicht seine einzige wahre Liebe. Leider wirkte dieser Effekt unterbewusst, er kam überraschend und nicht willentlich, fast traumwandlerisch und dann auch nur für einen winzigen Augenblick – wie ein Deja-Vu. Ein Deja-Senti! Dieses hier warf ihn um.
Schlimmer noch als im Biergarten. Was auch immer ihm gerade in die Nase stieg: Es war die Hölle! Wie die erste Äther-Narkose als Kind, die ihn binnen Sekunden in vollständige Schwärze hatte fallen lassen, aus der er mit so großer Übelkeit erwachte, dass er einen schmutzig-braunen, nicht enden wollenden Schwall erbrach, der nach Äther roch und schmeckte. Seltsamerweise konnte er Äther aus dem Gedächtnis reproduzieren, was ihm einmal so gut gelang, dass ihm wieder übel wurde. Bisher hatte er gedacht, dass kein Gestank schlimmer sei als Kotze, kein Gas ätzender als Ammoniak. Bis zu diesem Geruch. Auch als er später wieder erwachte, auf dem Fußboden seines Wintergartens, inmitten einer Wasserlache neben der umgerissenen Gießkanne, war er da. Selbst der Modergeruch aus den Pflanzentöpfen konnte diesem fürchterlichen Gestank nichts entgegensetzen, fast war es, als webte er sich ein in ein übelriechendes Netz, das sich wie eine Äthermaske über seine Nase legte. Wieder kämpfte er mit der Ohnmacht. Nimm dich zusammen, atme durch den Mund und steh verdammt noch mal auf! Seine Gedanken halfen. Wieder stellte er sich mit allem, was er anhatte, unter die Dusche, die er so heiß regelte, dass die Haut zu schmerzen begann und Dampf aufstieg. Ein Fehler! Dampf transportiert Gerüche, speichert sie sogar. Warum sonst die ätherischen Aufgüsse in der Sauna, die Aromen in Dampfbädern? Das passierte auch jetzt – nur mit diesem unbändigen Gestank. Hastig zog er den Hebel auf „kalt“. Erst als er zu bibbern begann, stellte er das Wasser ab. Nimm dies, du Seuche!
Tatsächlich roch er jetzt gar nichts mehr. Wirklich nicht? Wieder schnupperte er wie ein Hund, roch an Seife und Shampoo, roch nichts! Noch triefend eilte er an die Bar, zog die Flasche mit dem Enzianschnaps heraus – nichts! Alkohol könnte auch helfen, dachte er, aber wenn er mit dem Geruchs- nun auch den Geschmackssinn verloren hatte? Er probierte. Nichts! Ein leichtes Prickeln auf der Zunge, dann Taubheitsgefühl. Jetzt wurde er nervös. Corona! Ein Kollege hatte das Virus, war kaum krank gewesen, konnte aber noch ein halbes Jahr später nichts riechen und schmecken. Quatsch! Er ist doppelt geimpft. Und trotzdem war es möglich. Aber wäre das nicht sogar eine Gnade? Besser als diese zwei Erlebnisse allemal!
Als er auch am nächsten Morgen nichts roch und nichts schmeckte, nicht seinen geliebten Kaffee aus dem edlen Automaten, den er sich kurz vor dem zweiten Lockdown geleistet hatte, und all die anderen Düfte, die ein Frühsommermorgen durch weit geöffnete Fenster normalerweise bereithielt, machte er sich Sorgen. Die Riechattacken vermisste er zwar nicht, aber alles andere, was das Leben erst lebenswert macht, sehr wohl. Er meldete sich krank, blieb den ganzen Tag im Bett, aß nichts, trank Wasser aus dem Hahn, immer wenn er zur Toilette musste. So ging das über Tage. Anrufe seiner Chefin ignorierte er, er wollte niemanden sprechen, niemanden sehen – vor allem ihn sollte so niemand sehen. Nachts träumte er lebhaft, sah sich über eine duftende Blumenwiese laufen, im nächsten Moment an einer reich gedeckten Tafel sitzen und köstliche Speisen genießen, alles war so intensiv, so sinnlich, dass er gar nicht wusste, wohin mit seiner Begierde, doch wie aus dem Nichts schwebte etwas Glühendes auf ihn zu, eine heiße Fleischgabel, die sich in seine Nasenlöcher bohrte, sodass er vor Schmerzen schrie – und von seinem Schreien erwachte.
Nun sitzt er doch im Wartezimmer der HNO-Praxis und fühlt sich so elend, dass ihm egal ist, was andere Leute, selbst Kollegen, wären sie zufällig hier, über ihn denken. Sein Schnelltest ist negativ, auch die Diagnose des Arztes wenig aufschlussreich. Der schüttelt nur unsicher den Kopf, ein solcher Fall sei ihm noch nicht begegnet, sagt er und überweist ihn an eine Spezialklinik. Nasentropfen könne er nehmen, aber helfen würden sie ihm wohl nicht.
Wenige Meter von der Praxis entfernt befindet sich ein Supermarkt. Er gibt sich einen Ruck und betritt den Laden. So kann es schließlich nicht weitergehen. Er muss essen, Vitamine, Fleisch, Fisch. Er sehnt sich nach Fisch, wird ihn nicht schmecken, aber er kennt ja den Geschmack, denkt an seine Urlaube am Meer, wo er jeden Abend Meeresfrüchte mit viel Knoblauch gegessen, dazu herrlich kühlen Weißwein getrunken und zugleich die salzige Luft eingesaugt hat. Nirgendwo ist ein Fischgericht so intensiv wie direkt am Meer. Was würde er jetzt dafür geben, dort zu sein, in seiner Lagune. Mach es doch! Du wirst sehen, dort wird alles gut!
An diesem Abend isst er sich satt. Er spürt, wie die Kräfte zurückkommen, hat sogar die Hoffnung, dass auch sein Geruchssinn wiederkehrt, was aber nicht der Fall ist. Die Enttäuschung ist gering. Er rafft sich endlich wieder auf, ist endlich wieder da! Sehr spät schreibt er eine Mail an seine Chefin, in der er um Urlaub bittet, nein nicht bittet, er informiert sie, dass er verreisen wird, denn das sei jetzt überlebenswichtig, und sei es um den Preis seines Jobs. Lange liegt er wach, erwacht nach kurzem Schlaf, zieht sich an und nimmt seinen Rucksack mit den wenigen Sommersachen, die er eilig hineingepackt hat. Sein Zug ist pünktlich – und leer. Wer reist auch mit der Bahn in den Süden? Er freut sich über seine Entscheidung. Alles wird gut, alles ist genauso, wie er es will. Noch nie zuvor war er so einverstanden mit sich selbst, mit allem, was er tut. Im Bordrestaurant isst er sich durch die Speisekarte. Er hat Zeit – und Hunger. Die Kellnerin lächelt bei jedem Gang. Nicht nachsichtig oder spöttisch. Sie lächelt ihn ganz offen, fast bewundernd an, mit freundlichen Augen. Sie ist hübsch, findet er und stellt sich vor, wie ein Leben mit ihr wäre. Die Erinnerung an seine erste Liebe mischt sich in seine Phantasie, er riecht Moschus, Musk, erinnert sich vage an ihren Duft. Ob die Kellnerin so riecht? Ob er nach ihrem Parfum fragen soll?
Dann ist er da. Der Bus fährt ihn geradewegs in den Ort seines vergangenen Lebens. Alles ist noch so, wie er es in Erinnerung hat. Selbst im Hotel ist noch ein Zimmer frei, wenn auch nicht das meerseitige, in dem er immer gewohnt hat. Er geht gar nicht erst hoch, sondern begibt sich gleich zum Hafen. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. Vor ihm geht eine rauchende Frau, doch obwohl der Tabakqualm in sein Gesicht weht, riecht er ihn nicht. Was hat er erwartet? Natürlich müsste er jetzt schon das Meer riechen, den typischen Geruch vom Kai, nach Fisch, Öl und Schiffsdiesel, nach gebratenen Pesce, Frutti di mare, Knoblauch und Kräutern. Er weiß genau, was jetzt auf ihn einstürmen müsste, und obwohl er nichts davon wirklich wahrnimmt, geht sein Herz auf.
Auch sein Stammlokal liegt noch genauso da, wie er es vor Jahren verlassen hat. Es ist eine einfache Hafenbar mit wenigen, ehrlichen Speisen, die der Besitzer höchstselbst in einer winzigen Küche aus stets fangfrischen Meeresfrüchten zubereitet.
Da steht er. Sieht dem Ankömmling entgegen, sieht weg, dann wieder hin, und mit dem Erkennen in seinem Blick, breitet er seine Arme aus und begrüßt ihn mit einem Schwall italienischer Worte, die etwas gedämpft durch seinen Mundschutz dringen. Kurz will er sich in die Arme des alten Freundes werfen, doch auch der Italiener hält inne und streckt ihm nur den Ellbogen hin, den er mit seinem berührt. Die Freude ist echt. Immer noch redet der Restaurantbesitzer auf ihn ein, und obwohl er auch nach vielen Italienurlauben nur ein paar Brocken kann, versteht er zumindest den groben Sinn. Ja, Corona, viele Freunde gestorben, zum Glück keiner aus der Familie, jetzt seien alle geimpft, jetzt gehe es endlich aufwärts, wie schön, dass er wieder da sei.
Luigi bietet ihm den besten Platz an, direkt am Kai, im Schatten der Platane, dort, wo das Wasser träge an die Mole schlägt. Um diese Zeit sind noch alle Tische leer, eigentlich ist Siesta, aber Luigi hat sie noch nie gebraucht. Er ist ein Energiebündel, ein Alter Ego, beide haben sich von Anfang an verbunden gefühlt, weil sie sich ähnlich sind, im Wesen, nicht im Aussehen. Luigi ist um einiges älter als er. Kurz verschwindet er, kommt zurück mit einer Karaffe Weißwein, einer Schale Oliven und Bruscetta. Was braucht es mehr zum Glück? Er ist angekommen. Nie mehr wird er von hier weggehen. Luigi setzt sich zu ihm an den Tisch, wünscht ihm „Salute“, und während er isst und trinkt, leider ohne jeden Geschmack, redet sein Gegenüber weiter auf ihn ein, erzählt vom Leben im Ort, von „la bella mare“, „bella Italia“ und so weiter. Sein Gast nickt zustimmend, grunzt wohlig, als erlebe er wahrhaftig den Geschmack, den er doch nur aus seiner Erinnerung holt. Er wird Luigi nichts von seinen Leiden erzählen, zu kompliziert und zu verfänglich erscheint es ihm, aber der Italiener fragt ihn auch gar nicht, selbst das „Come stai?“ zur Begrüßung verlangt ja im Grunde keine Antwort.
Als die ersten Gäste kommen, ist er bereits ziemlich angetrunken und Luigi in der Küche. Seine Frau begrüßt die Besucher. Mit ihr ist er nie warm geworden und auch jetzt behandelt sie ihn wie einen Fremden, bedient ihn nicht, denn das lässt sich Luigi auch im größten Küchenstress nicht nehmen. So wie jetzt, als er ihm den Vorspeisenteller serviert. Warmer Octopus! Wie er den immer geliebt hat! Die zarten, im Mund förmlich dahinschmelzenden Tentakelstücke, die fruchtige und aromatische Tomatensauce. Er kann sich den Geschmack ohne weiteres aus dem Gedächtnis holen. Das „Mundgefühl“ hilft ihm; wie immer schmilzt das Octopus-Fleisch wie Butter auf der Zunge. Und gerade als er die dritte Gabel nimmt, erwischt ihn der Blitz.
Diesmal ganz anders. Der Geschmack ist plötzlich so intensiv, dass sich sein Mund anfühlt, als würde er brennen. Seine Nerven sind elektrisiert, seine Kopfhaut beginnt zu kribbeln, als wäre dort oben ein ganzes Ameisennest. Er ist darauf nicht vorbereitet, spuckt den Bissen reflexartig auf den Teller zurück. Wie grell die Farben plötzlich sind! Die Tomatensauce sieht aus wie Blut. Dann riecht er es. Den Octopus, das ganze Aroma auf dem Teller wie eine eigene Welt, die so stimmig ist, als wäre sie lebendig. Doch noch etwas dringt in seine Nase, etwas viel Stärkeres. Ein Parfum – ein furchtbarer, ekelhafter Geruch, stechend, ätzend. Er kennt dieses Parfum, es hat ihm noch nie gefallen, ihn regelrecht abgestoßen. Ein klassischer, teurer Duft, den ausschließlich ältere Damen auftragen, zumeist auch zu viel davon. Das Wort „Duft“ hat er deshalb immer schon als Hohn empfunden. Dieses Parfum ist eine Belästigung, ein wahres Attentat auf Mitmenschen, gerade dort, wo man ihm nicht ausweichen kann, in der Bahn oder im Restaurant – selbst hier draußen von der Dame am Nebentisch.
Es ist, als bohrte sich die glühende Gabel aus dem Traum in seine Nasenlöcher. Der Schmerz ist kaum zu ertragen. Schwindel erfasst ihn, doch anders als die beiden Male zuvor wird er nicht ohnmächtig. Im Gegenteil: Noch nie war er so wach wie jetzt, so stark und zum Äußersten entschlossen. Er hält es nicht mehr aus. Und er weiß, was zu tun ist. Alles passiert ganz automatisch: das jähe Aufspringen, der schnelle Satz an den Nebentisch, das Umfangen ihres Kopfes mit dem linken Arm, die sichere, fast elegante Bewegung seiner rechten Hand um ihren zarten Hals, gleich einem kühnen Strich auf einem Cello, nur nicht mit einem Bogen, sondern mit seinem Fischmesser. Tatsächlich hört er jetzt Musik, schiefe Töne, die in den Ohren schmerzen, ein kakophones Crescendo, gefolgt von einem Paukenschlag wie Donnerhall. Ein Schuss aus nächster Nähe. Etwas Hartes trifft sein Gesicht, bohrt sich heiß in seine Stirn genau über der Nase, schaltet noch im Fallen alle Sinne aus.
Endlich.

©Martin Bensen