„Euer Ehren, ich war immer schon und werde immer bleiben, was ich bin: ein Friseur. Nicht mehr und nicht weniger.“
Das Lachen der Klägerinnen ist grausam. So grausam wie die Anklage. Er versteht die Welt nicht mehr. Erst recht nicht, nach allem, was er durchgemacht, was er verloren hat. Was werfen sie ihm vor? Unmöglich habe er sie gemacht, heißt es, in den Ruin habe er sie getrieben. Aber was machen sie mit ihm? Rufmord, nein Mord, ist das! Was hat er denn noch? Friseur zu sein ist sein Leben. Er ist ein guter Friseur. Der beste! Und alle wollten ihn doch. Alle wollten das vollkommene Glück – aus seinen Händen …Es war eine Offenbarung. An einem kühlen Spätsommertag kam die ganze Sache ins Rollen. Es war einer dieser seltenen Tage, an dem etwas Großes passiert, das spürte er, als die ältere Dame seinen Salon betrat. Sie hatte gleich den ersten Termin an diesem Morgen, den ersten von sechs. Mehr schaffte er nicht. Sein Salon war klein, nicht ausbaufähig, aber im Grunde war er gerne sein eigener Herr. Er ist bescheiden, ein Eigenbrötler, aber auch ein Perfektionist. Andere Menschen lenken ihn ab, beleidigen ihn mit ihren Unzulänglichkeiten.
Man habe ihn ihr empfohlen, sagte sie kühl und nahm ohne Umschweife vor dem großen Spiegel Platz.
Ob er ihr etwas anbieten könne, Tee, Kaffee, Mineralwasser?
Sie starrte ihn nur an. Ihre Augen schienen zu glühen. Das konnte was werden … Etwas nervös geworden griff der Friseur zu den nicht mehr ganz taufrischen Prospekten mit den Frisurenbeispielen. Ein Fehler: Die Dame reagierte mit einem unwirschen Schnalzen der Zunge und Kopfschütteln. Da hatte er sich wohl gründlich getäuscht – oder auch nicht: Etwas Großes muss nicht automatisch etwas Gutes sein, dachte er und wurde noch nervöser. Selten haben seine Hände so gezittert. Nicht einmal in der Ausbildung und während der Prüfungen, lange ist’s her.
„Es heißt, Sie sind wie ein Bildhauer“, die Stimme der Frau klang jetzt weicher, anmutig und auf eine verstörende Weise auch erotisch. „Es heißt, ein Bildhauer fördert aus dem Stein nur das hervor, was immer schon in ihm vorhanden war.“ Sie löste die Klammer ihres Dutts und ihr graues Haar fiel bis unter die Schulterblätter.
Der Friseur ahnte, auf was die Kundin hinauswollte, und es gefiel ihm nicht.
„Verehrteste, ich fühle mich geschmeichelt. Aber tatsächlich bin ich nur ein Friseur. Was kann ich Ihnen denn in diesem Sinne Gutes tun?“ Er atmete einmal tief durch und berührte vorsichtig ihr Haar. Normalerweise war zuerst eine Haarwäsche geboten, doch die Frau hatte diese ausdrücklich abgelehnt. Vielleicht trug ihre harsche Art auch zu seinen ungewohnten Hemmungen bei. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich.
„Seien Sie mein Bildhauer! Befreien Sie mich!“
„Ich bin nicht sicher, ob ich Sie …“ Der Friseur brach ab, sah im Spiegel, wie er errötete, ein Blutmond über einem Eismeer. Wenn er malen könnte, hätte er ein grandioses Motiv, aber darum ging es jetzt nicht.
Hör auf dein Gefühl, was hat dir dein Lehrmeister beigebracht? Nicht das Handwerk macht den Meister, sondern Inspiration und Empathie. Spüre die Seele deines Kunden, spüre, was er braucht, mach ihn glücklich! Nur glückliche Kunden kommen immer wieder.
Während er über die weisen Worte nachdachte, nahm er ihr Haar in beide Hände, streichelte es sanft, teilte es in Strähnen, zog sie fast zärtlich lang, und als er sein Spiegelbild wieder fokussierte, sah er gerade noch den verträumten Ausdruck seiner Augen – und den aufreizenden Blick seiner Kundin. Sie wirkte plötzlich jünger, fast erschrak er, nicht so sehr über diesen Anschein, sondern über die Erkenntnis, dass er Macht hatte. Oft hatte er innerlich damit kokettiert, hatte sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er einen Kunden verschneidet, ihn einfach kahlrasiert oder knallgrün färbt. Natürlich hat er sich stets im Zaum gehalten, doch genossen hat er die Vorstellung schon. Sie sind ihm ausgeliefert – alle, die sich ihm anvertrauen.
Aber die Machtphantasie heute war anders. Sie überkam ihn wie ein wohliger Schauer, prickelte über seine Kopfhaut den Hals hinunter bis tief in den Unterleib, machte ihn fast euphorisch. Zugleich wurde er ganz ruhig. Denn jetzt wusste er, was er zu tun hatte. Jeder Handgriff würde sitzen. Alles würde gelingen. Alles würde so sein, wie er es wollte, nein, wie sie es wollte – oder vielmehr, wie sie wahrhaftig war, tief in ihrem Inneren. Er würde ihr wahres Wesen der Verborgenheit entreißen – das Wahre und Schöne. Aletheia! Aisthesis! Philosophie hatte er auch mal kurz studiert. Seine Kunden mochten es, wenn er ihre Gedanken mit Sinn anreicherte; schießlich tat er das, ohne zu schulmeistern, im Gegenteil: Er ließ es so aussehen, als seien es ihre interessanten Gedanken, gab seinen Kunden so das Gefühl besonderer Intellektualität. Abends schmunzelte er oft darüber, wenn er den kleinen Salon abschloss und den Heimweg zu Fuß genoss. Du bist ein Illusionist, sagte er sich, wenn auch kein Magier.
„Sie sind ein Künstler!“ Die Kundin war mehr als zufrieden, das Trinkgeld üppig und der wahre Lohn noch größer, als sie drei Wochen später erneut um einen Termin nachfragte. Nicht nur das: Sie vermittelte ihm weitere Kundinnen, beste Freundinnen, weniger beste, aber ehrenwerte Bekannte, allesamt Frauen aus besseren Kreisen. Wenn das so weiter ginge, würde er keine Termine mehr für seine männlichen Kunden anbieten können. Eine Entwicklung, die er durchaus begrüßte, denn bis auf wenige gingen ihm die Herren gehörig auf den Geist. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Als die Dame mit dem Bildhauer-Faible wieder erschien, war sie wie ausgewechselt. Sie umarmte den Friseur zur Begrüßung, ließ sich einen Cappuccino servieren, den er immerhin mit seinen Bordmitteln ganz passabel hinbekam, was aber auch gar nicht so wichtig war. Die Dame sprudelte förmlich über vor Glück. Ihr ganzes Leben habe sich verändert, sie habe sich endlich durchgerungen auszuziehen, nicht ohne den Gatten gehörig bluten zu lassen, notfalls vor Gericht, habe schnell eine „großartige“ Mansardenwohnung mit bester Aussicht im besten Viertel der Stadt gefunden. Aber das Allerbeste sei: Sie habe sich verliebt. Bis über beide Ohren. Er liege ihr zu Füßen, ein Bild von einem Mann, zwanzig Jahre jünger, doch den Unterschied sehe niemand und sie werde einen Teufel tun, ihn zu offenbaren. Warum auch? Schließlich habe er, der Meister seines Fachs, sie dazu gebracht. Nicht allein mit seiner Kunst, sondern mit seinem Genie, das auch aus jedem seiner Worte spreche. Sich ihm anzuvertrauen, sei eine Gnade, eine Gunst, die sie auch anderen, ihren Freundinnen zumal und einigen ebenso enttäuschten Ehefrauen, zuteil werden lassen wolle, er würde sich noch wundern …
Das mulmige Gefühl schwand mit jeder neuen Kundin und am Ende hatte der Friseur keine Skrupel, den letzten männlichen Kunden abzuservieren, manch langjähriger Treue und bösem Kommentar zum Trotz. Nicht alle seine Neuerwerbungen waren reifen Alters, eine Kundin erschien ihm so jung, dass er sich traute zu fragen.
„Morgen werde ich 25. Aber ich kann nicht feiern. Hab Prüfung. Leider hängt alles davon ab.“
Der Friseur stutzte. Sie musterte ihn mit großen blauen Augen. Ein hübsches Mädchen. So stellte er sich seine Tochter vor, die es nicht gab und nicht mehr geben würde.
„Sie denken, warum sitzt sie dann beim Friseur statt zu lernen?“
„Wenn Sie mich so fragen …“
„Dann sag ich Ihnen jetzt was: Wenn meine Tante nicht wäre, würde ich das vielleicht. Und würde doch nur reinhämmern, was nicht mehr hängenbleibt in meiner Birne. So habe ich wenigstens die Chance auf ein Wunder. Meine Tante glaubt jedenfalls fest daran.“
„Hören Sie, ich kann keine Wunder …“
„Nein, bitte!“ Ihre Stimme zitterte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Legen Sie einfach los“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Der Friseur schloss die Augen, nahm den Kopf der jungen Frau zwischen seine Hände, massierte mit seinen Fingerspitzen ihre Schläfen. Wie zart sie sind, wie zerbrechlich. Intuition! Die Kleine hier braucht deine Hilfe. Du kannst sie überzeugen. Sei aber behutsam. Gib ihr Feuer, lass sie brennen, aber verbrenne sie nicht. Ein schmaler Grat, das musste er zugeben. Aber er spürte, wie die junge Frau unter seinen Händen zu strahlen begann, unsichtbar, nur fühlbar, aber genauso muss sich innere Kraft entfalten, dachte er. Mehr zum Schein und ohne dass es tatsächlich nötig gewesen wäre, bearbeitete er ihre Frisur, föhnte und formte sie ausgiebig, ließ sie frecher und voluminöser aussehen, selbstbewusster. Und genauso verließ die junge Frau seinen Salon. Eine bereits wartende Kundin sah ihr mit anerkennendem Nicken nach.
Zu Weihnachten überhäuften ihn seine Kundinnen mit Geschenken. Sie rührten ihn, denn er bemerkte sehr wohl, dass die Zuwendungen von Herzen kamen, wenn auch mit kaum verhohlenem Mitleid ob seiner Einsamkeit, die ihm zum Fest der Liebe doch sicher schwer erträglich werde. Ob er nicht mitfeiern wolle, wenigstens an Heiligabend, haben ihn sogar zwei seiner Kundinnen gefragt. Er wusste aus ihren eigenen Erzählungen, dass sie nur zu genau kannten, was Einsamkeit ist. Gerade bei ihnen war es ihm ein Rätsel, was sie aus den Besuchen seines Salons zogen. Als Anlageberater taugte er nicht, was die eine der beiden einsamen Herzen etwas missmutig zur Kenntnis genommen hatte, er in der Folge aber mit aufbauenden Worten und draufgängerischem Styling mehr als wettmachte.
Meine Pferdchen laufen, dachte er manchmal etwas abschätzig, wenn er seinen Heimweg verlängerte, weil er beim Gehen am besten grübeln konnte. Wie angeblich die Peripatetiker in der Schule des Aristoteles, nur dass er sich nicht wie die alten Griechen mit anderen austauschen konnte. Vielleicht hätte ihn beizeiten jemand gewarnt, ihn wieder geerdet, ihm zumindest den Spiegel vorgehalten, einen anderen als den in seinem Salon, der ihm selbst oft wie ein Trugbild erschien, ein bloßes Abbild der Wirklichkeit, deren Wesen er selbst nicht erkennen konnte – wie kein Mensch dieser Welt. Warum darüber nachdenken, sagte er sich dann, warum nicht genießen, was ist. So viel Zuwendung, materiell und ideell. Ich werde verehrt, bewundert, geliebt. Was kann ein Mensch mehr wollen? Ist nicht dies vollkommenes Glück?
An Hybris dachte er nicht. Daran, dass er übermütig werden könnte, zu selbstverliebt. Die Philosophen haben die Götter zu Recht verbannt, sagte er sich. Sie haben die menschliche Erkenntnis und Vernunft ins Zentrum gerückt und damit der Nemesis den Boden entzogen. Und doch steckt das Gerechtigkeitsempfinden tief in den Menschen, man dürfe nicht zu überheblich werden, das räche sich immer – Hochmut kommt vor dem Fall. Wohl rechnete der Friseur mit Neidern. Seine geschassten Kunden lauerten bestimmt nur darauf, ihn fallen zu sehen. Aber vielleicht war auch diese Vorstellung nur ein zarter Anklang einer wahnhaften Phantasie. Der Laden brummte, die Kundinnen fraßen ihm aus der Hand, aber manchmal wurde ihm auch alles zu viel. Trotzdem war er nie krank, zeigte er keine Schwäche, obwohl auch er nicht jünger wurde. Wie seine Kundinnen.
Ausgerechnet seine älteste und treueste Verbündete – als solche sah er die Bildhauer-Kundin inzwischen an – zog ihm den Boden unter den Füßen weg. Sie kam einfach nicht mehr. Keine Absage, keine Entschuldigung. In ihrem Gefolge blieben nach und nach auch die anderen Kundinnen weg. An einem der ruhigen Tage, die nun in seinen Salon einzogen, bimmelte die Türglocke plötzlich schriller als sonst. Hatte der Friseur noch gehofft, einen völlig fremden Kunden begrüßen zu können, so sah er sich gleich doppelt getäuscht: Mit offensichtlichem Bedauern überreichte der Postbote ihm einen amtlichen Brief, dessen Empfang er mit Unterschrift bestätigen musste. Es war der Anfang vom Ende.
Im Gerichtsprozess durchlief der Friseur alle Phasen des Trauerns – wobei es in seinem Fall eigentlich um das Verstehen einer für ihn unfassbaren Konfrontation ging. Er konnte nicht glauben, dass die Menschen in den Roben wirklich ernst meinten, was sie sagten und fragten. Aber wer sollte ihm dieses Theater vorspielen? Zu welchem Zweck? Nein, sie würden nicht aufspringen und plötzlich laut loslachen, weil alles nur ein Scherz wäre, das wurde ihm mit jeder bitteren Prozessminute immer klarer. War er zunächst noch störrisch, verlegte er sich bald auf mögliche Zugeständnisse, auch weil sein Anwalt ihm dazu riet, ein mieser Advokat, wie sich schnell herausstellte, um sich beinahe aufzugeben, nein, das nun doch nicht, nicht alle Phasen: Man wird über ihn urteilen, ihn veurteilen, aber er wird das alles nicht akzeptieren. Allen Ausführungen der Klägerinnen zum Trotz. Was kann er dafür, dass seine Bildhauer-Kundin all ihr Hab und Gut und nicht zuletzt ihre Würde an einen Heiratsschwindler verlor? Was kann er, der Beklagte, dafür, dass die Jura-Studentin ihr Examen in Bausch und Bogen versemmelte, man sogar munkelte, dass sie ihren Prüfern in allzu koketter Weise begegnet war, was natürlich niemand bezeugen konnte oder wollte. Ihre Tante hatte ihren Fall einfach mit auf ihre Rechnung genommen, viel später und zur Bestätigung ihres eigenen Schicksals. Seiner Tat … Was schließlich war sein Zutun an den erdrutschartigen Verlusten der Börsianerin, deren Ruf als gefragte Analystin für immer zerstört war? Wie blind sind denn alle hier vor Gericht? Haben denn alle ihren Verstand verloren? Warum glaubt ihm niemand, dass er mit alldem nichts zu tun hat? Nichts zu tun haben kann! Wie vermessen müsste er sein? Er ist doch nur ein Friseur.