Er ist ein Spanner, das sagt er selbst. Kein Grund, sich beschimpfen zu lassen, meint er. Er stehe dazu, denn es tue niemandem weh. Vielleicht seiner Frau, wenn sie von seinen geheimen Gedanken wüsste, seinen seelisch-sinnlichen Abwegen. Aber sie ist auch kein Unschuldsengel, weißgott nicht. Ob sie es ahnt? Sie mustert ihn manchmal so prüfend, lacht nicht mit, wenn er sich wieder amüsiert, etwa über ihr spätes Aufstehen oder ihre starre Sonnenanbeterhaltung, die er insgeheim bewundert und an der er sich nicht sattsehen kann, was er aber mit seinen scheinbar belanglosen Bemerkungen verharmlost und überspielt. Es geht um die junge Blonde in der Dachwohnung schräg gegenüber, hundert Meter Luftlinie, schätzt er. Zu weit jedenfalls für seine kurzsichtigen Blicke, selbst mit Brille. Einmal hat er es mit seinem alten Feldstecher probiert, hat sich herangezoomt, als sie sich wieder gesonnt hat auf ihrer ins Dach eingelassenen Balkonterrasse. Sie in einem knappen blattgrünen Bikini, er in seinem schlabbrigen Homedress, ganz Rentner, im Schutz des spiegelnden Fensters.
Wieso eigentlich? Nur weil sie mich mit ihren womöglich besseren Augen für einen Spanner halten könnte? Was spricht denn dagegen, das Fernglas ganz offen zu benutzen? Ich beobachte halt Vögel. Ist das nicht völlig normal für einen Rentner?
Mit trotzigem Mut ist er raus, hat sich auf die Balkonterrasse gesetzt, erst ein wenig in der Gegend herumgeschwenkt und dann ganz ungeniert auf ihr Haus gezielt. Gerade hat er sie scharf gehabt, da hat ihn ihr Blick getroffen.
Weit aufgerissene Augen, die sich schnell verengen. Das Bild kriege ich nicht mehr aus dem Kopf: in den Linsen schon etwas unscharf ihr empörter Gesichtsausdruck, die ungeschützte Brust, das Balkongeländer, mein Garten mit dem Schnittguthaufen, bevor das Fernglas hart auf den Boden aufschlägt.
Auf dem Abfallhaufen weiter hinten im Garten stand er auch einmal, vermeintlich, um das frische Geäst mit den Füßen einzuarbeiten, mehr aber, um der jungen Frau näher zu sein, vielleicht ihre Stimme zu hören oder Musik, die sie hört. Aber er weiß: Die jungen Leute haben es nicht mehr mit dem Raumklang, ob in der Bahn, im Wartezimmer oder sogar beim Autofahren – bei allen stecken diese Stöpsel im Ohr. Was sie wohl gehört hat, als sein Blick sie traf, das Fernglas womöglich in der Sonne geblitzt, sie geblendet hat? Allein das kann er sich vorwerfen lassen: zu arglos gewesen zu sein, zu unvorsichtig.
Und wenn schon, ich beobachte doch nur Vögel, erfreue mich an meinem Garten, nun gut, auch an dir, an deiner Schönheit. Aber ich bin harmlos. Niemals würde ich dir etwas antun. Lass mir doch meinen Spaß. Mit meiner Frau hab ich schon lange keinen mehr. Was bleibt mir denn noch? Da kann ich mich ja gleich begraben lassen.
Wenn er so weiter macht mit seinen Ersatzfreuden, dem viel zu üppigen, viel zu fetten Essen und dem Alkohol, mindestens eine Flasche Wein am Abend, oft noch mehr, wird es schon bald soweit sein.
Also was spricht dagegen, noch etwas Schönes zu genießen, wenigstens aus der Ferne?
Dann sitzt er da. Jedenfalls so oft, wie ihn das Wetter lässt. Seine Frau redet ihm schon lange nicht mehr rein. Sie meidet ihn, ist oft weg und sie schläft meistens schon, wenn er sich mit einer dicken Alkoholfahne ins Bett fallen lässt, das zum Glück groß genug ist, um sich sogar nachts aus dem Weg zu gehen. Manchmal erscheint ihm die junge Frau in seinen Träumen. Nein, es sind keine feuchten Träume. Das war einmal.
Du bist wie ein Engel – und du heilst mich, machst mich wieder jung. Wenn ich dann aufwache, vermisse ich dich, sehne mich nach dir, nach deinem bloßen Anblick. Schau, hier sitze ich, wo bist du? So lange bleiben deine Vorhänge zu, so lange muss ich auf dich warten, bis du endlich erscheinst, du Engel meiner Träume.
Die erste Nachricht hat er zum Glück abfangen können. Ein unscheinbarer Zettel im Briefkasten. Hässliche Worte, die er ihr nicht zugetraut hätte. Sie passen auch gar nicht zu der jungen, fast kindlichen Schrift, findet er. Aber es gibt keinen Zweifel: Die junge Frau von gegenüber hat reagiert.
Ich ein Spanner? Ja und? Was willst du? Du bist es doch, die nun eine Grenze überschritten hat. Willst du mich jetzt stalken? Mag sein, du bist verletzt. Aber jetzt bin ich es auch! Ich bin kein Verbrecher! Zeig mich doch an, ich werde alles abstreiten. Aussage gegen Aussage. Und dass ich auf meinem Balkon sitze, kannst du mir nicht verbieten. Wäre ja noch schöner. Wo soll ich denn hingucken? Immer angestrengt an deinem Haus vorbei? Ist doch Blödsinn! Nein, ich werde dir nicht antworten. Keinen Mucks werde ich machen. Hältst du mich für so dumm? Jede Antwort wäre die falsche Antwort, ein Schuldeingeständnis, das ist doch klar. Aber wieso „Schuld“? Ich bin kein Verbrecher!
Heute bist du ausgezogen. Kein Vorhang mehr, keine Möbel. Alle Türen stehen offen. Ich sehe das Fenster zur anderen Seite. Deine Wohnung ist leer, wirkt wie ausgebeint. Ist es wegen mir? Weißt du, was du mir da antust? Jetzt, wo ich alleine bin. Ganz allein in diesem großen Haus. Ich bin nicht mehr wütend, hörst du? Das war ich am Anfang, als meine Frau ausgezogen ist. Wegen dir! Wie konntest du sie nur da hineinziehen? Es war immer nur eine Sache zwischen dir und mir! Jetzt hast du unser Leben zerstört, das ist dir hoffentlich klar. Nein, die Wut ist weg, die Träume, in denen ich dich noch sehe, wie du mich auslachst, neben dir meine Frau, wie ihr beide auf mich zeigt, mich mit euren bloßen Fingern erschießt. Ich nehme euer Urteil an. Aber vergesst nicht: Ich war nur ein Spanner.