Wir sind bereit. Die Gasmaske – „Wie heißt das, Soldat?!“ „ABC-Schutzmaske!“- schneidet mir in die Haut, die beiden Sichtfenster beschlagen. Das Atmen fällt mir schwer. Ich verfluche dieses Scheißding. Gut, dass wir nicht rennen müssen, nicht durch hohes Gras robben. Diesmal nicht. Diesmal geht es in den ABC-Übungsraum. „Gaskammer“ raunen die Rekruten pietätlos, einer gluckst was von „Café Eichmann“. Ich hasse diesen zynischen Jargon. Hasse mich selbst, nicht den Kriegsdienst verweigert zu haben. Wie unwürdig das alles ist.
Die Sommersonne brennt, doch wir müssen unsere Ponchos tragen, sie gehören zur ABC-Schutzausrüstung, sind aus Kunststoff und sollen auch gegen atomaren Fallout schützen, wozu man sich hinhocken und komplett darunter verschwinden muss wie unter einem runden Zelt, natürlich mit Kapuze und Schutzmaske auf, was die Soldaten lächerlich aussehen lässt – wie kleine Erdhügel oder erdfarbene Rüsseltiere.
Mir ist nicht nach Lachen. Mir ist heiß. Ich will jetzt da rein. Nein, will ich nicht! Ich habe Angst vor diesem Übungsraum. Keiner weiß, ob die da wirklich Reizgas einlassen. Es soll unsichtbar sein, nicht so wie der Tränengasnebel bei Demos, aber deswegen umso wirksamer. CS-Gas, das einen zum Kotzen bringen soll. Die Vorstellung, gleich in einem vergifteten Raum gefangen zu sein, verstärkt meine Klaustrophobie. Dauernd träume ich von beengenden Situationen, davon, dass ich zusammengepresst werde und zu ersticken drohe.
Die „ABC-Schutzmaske“ soll genau das verhindern, sagt unser Unteroffizier. Sie sei unsere Lebensversicherung. Atomwaffen, biologische und chemische Kampfstoffe – im Krieg müsse man mit allem rechnen, da sei nix fair oder gar menschlich. Und Veilchen! Wenn wir Veilchenduft wahrnähmen, sei es eigentlich zu spät, so rieche richtiges Giftgas, belehrt uns unser Ausbilder. Wer da nicht sofort die Schutzmaske aufsetze, sei verloren. „Und jetzt rein!“
Mir sacken fast die Beine weg, als ich die Barracke betrete, zusammen mit drei anderen Rekruten. Wir müssen durch eine Schleuse, hinter uns der Unteroffizier. Er verriegelt die zweite Tür. Anders als erwartet hat der Raum sogar ein Fenster, sieht beinahe aus wie eine Stube, nur dass hier keine Spinde und Stockbetten drinstehen. Dafür befindet sich am Boden eine Art Röhre, die über Eck an zwei Wänden entlang verläuft. Sie ist gerade groß genug, um hindurchkriechen zu können, wenn auch nur bäuchlings, robbend eben, was auch genau der Zweck ist: Der Unteroffizier, der ebenfalls Maske, aber keinen Poncho trägt, dirigiert uns mit Gesten und unverständlichem Grunzen, lässt uns nach der Reihe durch die Röhre kriechen, was wegen des Ponchos nicht so einfach ist, er haftet wie Folie am Boden, bremst die Bewegung. Schließlich stehen wir alle wieder da und sehen uns durch unsere insektenartigen Gucklöcher mit großen Augen an. Mir wird schummrig, ich kriege kaum Luft, kämpfe gegen den Impuls an, die Maske einfach herunter zu reißen. Wieder sollen wir uns hintereinander aufstellen. Zum Glück bin ich nicht der Erste in der Reihe, denn jetzt passiert etwas Schockierendes: Der Unteroffizier greift nach der Maske meines Vordermanns, dreht den Filter in einer raschen Bewegung ab und schmettert ihn krachend in die Röhre. Ich bin perplex, doch der Kamerad reagiert blitzschnell, hechtet hinterher. Ich höre sein Poltern, sehe ihn eine ganze Weile nicht, fange an zu zittern, ich bin ja der Nächste. Der Unteroffizier will gerade nach dem Rekruten in der Röhre sehen, als dieser am anderen Ende erscheint – mit aufgeschraubtem Filter. Unser Ausbilder hebt den Arm, ich hole tief Luft, muss husten. Er reckt den Daumen, zollt dem Kameraden Anerkennung. Dann ist er bei mir, schraubt meinen Filter ab, behält ihn allerdings in der Hand. Hilfe! Was passiert denn jetzt? Ich halte die Luft an, blicke zu den anderen. Mein Nebenmann kapiert es, schraubt seinen Filter ab, reicht ihn mir. So geht es reihum, wir bilden einen Kreis geben uns die Filter weiter, immer ist einer kurze Zeit ohne. Dann immer zwei, denn so billig lässt uns der Unteroffizier nicht davonkommen. Schließlich erlöst er uns, indem er uns die Filter zurückgibt und auf den Ausgang zeigt.
Draußen reißen wir uns sofort unsere Masken vom Kopf, atmen die heiße, aber saubere Sommerluft tief ein, befreien uns endlich auch von den Ponchos, die eigentlich erst dekontaminiert werden müssten. Aber es ist ja nur eine Übung.
„Wahrscheinlich war nicht mal Gas in dem Kabuff“, meint einer. „Wenn da wirklich was drin war, würde es auch jetzt noch reizen, sogar unsere Haut, weil es noch an den Ponchos haften würde.“
Die liegen wie abgestreifte Häute auf dem braunen Rasen und scheinen in der Sonne zu schmoren. Es kommt mir so vor, als träten Dämpfe aus ihnen. Sicherheitshalber nehme ich Abstand, bekomme einen Rempler von unserem Unteroffizier, der sich vor dem vorlauten Rekruten aufbaut.
„Da haben wir ja einen ganz Schlauen!“, schnauzt er ihn an. „Ihr Abiturienten seid doch alle gleich, was? Meint wohl, ihr seid was Besseres, wie?“ Seine Augen funkeln, in seinem roten Gesicht zeichnet sich noch der Umriss der Maske ab. „Aber schlau reden kann jeder. Wollen doch mal sehen!“ Er deutet auf den Eingang des Übungsraums und macht eine einladende Geste. „Was ist? Wir warten!“
Der Angesprochene blickt unsicher zwischen dem Unteroffizier und der Barracke hin und her. Wir anderen schweigen betreten. Ich hätte gewettet, dass mein Kamerad kuscht, doch jetzt grinst er trotzig und geht auf den Übungsraum zu. Ohne zu zögern öffnet er die Tür zur Schleuse, ist gleich darauf verschwunden. Der Unteroffizier folgt ihm, stellt sich vor den Eingang und blickt uns an.
Was wir denn tippen, fragt er, doch ehe wir antworten können, fliegt die Tür auf. Das Husten des Kameraden geht in Würgen über, während er gleichzeitig verzweifelt nach Luft schnappt. Sein Gesicht ist rot angelaufen. Er sackt auf die Knie, krümmt sich und spuckt. Der Ausbilder grinst triumphierend. Schließlich erbarmt er sich, holt seine Wasserflasche hervor, durchtränkt sein Stofftaschentuch und klatscht es dem Soldaten ins Gesicht. Der nimmt es dankbar, kühlt seine verquollenen Augen, hustet und beißt hinein, beruhigt sich allmählich. Dann setzt er die Feldflasche an, spuckt gleich wieder aus, trinkt und gurgelt, kriegt sich langsam wieder unter Kontrolle.
„Dienstschluss, wegtreten!“, sagt der davoneilende Unteroffizier und lässt vier verstörte junge Männer zurück.
Wehrdienst 1981, Grundausbildung. Es herrscht Krieg. Kalter Krieg. Die meisten da draußen leben sehr gut damit.