Gut, dass er drüben nicht wohnen muss. Dieser Verhau von einem Balkon! Als wäre er eine Müllhalde. Nur leider muss er täglich draufgucken, kommt kaum daran vorbei, weil die Häuser so dicht stehen, gerade mal eine schmale Schneise lassen für einen seitlichen Blick auf etwas Grün, den alten Baum, der schon im August braun wird. Er gehört zum nahen Park, den er das letzte Mal vor einem Jahr besucht hatte – damals schon kurzatmig und in Begleitung eines Betreuers.
Ausgerechnet dieser hässliche Balkon befindet sich genau gegenüber, etwas unterhalb noch, sodass er nicht nur durch die breiten Gitterstäbe, sondern auch über das Geländer hinweg auf das Elend sehen kann. Muss. Er kommt ja nicht umhin. Sein Balkon ist der einzige Kontakt zur Außenwelt, das einzige Draußen in diesem Gefängnis. Was sonst ist diese Seniorenresidenz für jemanden wie ihn, zumal in diesen Zeiten? Was schert das die Nachbarn drüben? Da ist Platz, viel mehr als auf seinem Ausguck, der gerade einmal ihm, einem Stuhl und einem runden Tischchen aus Drahtgeflecht reicht, einer Loge im Theater nicht unähnlich, hätte der kleine Rundbalkon nur annähernd schöne Aussichten. Jawohl, ein Schandfleck ist das da drüben, so viel Platz für diese Vergeudung, diese achtlose Zurschaustellung von allem Abgelegten, die Abschiebemasse des Lebens: verwitterte Möbel, Teppiche, Altkleidersäcke, Flaschen, ein schlaffes Planschbecken, Fahrradteile, sogar Bücher und große Bildbände, aufgequollen und verblichen – wie Kadaver… Er weiß, dass darunter Schätze sind, ein Bildband über „Ferne Paradiese“; es hat ihn geschmerzt, als er den Titel durch seinen alten Feldstecher entziffern konnte.
Mittags liegt das Grauen in der prallen Sonne, nur im Hochsommer beschattet von dem Balkon darüber, der einen Sichtschutz hat, nicht um etwas zu verbergen, wie er vermutet, außer vielleicht nackte, von Sonnenöl glänzende Haut. Wann immer die hübsche junge Frau ihren Kopf über die Brüstung reckt, sieht er gleich darauf ihren ausgestreckten Arm, freundlich winkend. Ihm zuwinkend. Dazu ein Lächeln, das ihn um Jahre verjüngen und ihn spüren lässt, dass seine Männlichkeit zwar verkümmert ist, aber beileibe nicht verschwunden. Tief in ihm, in seiner Erinnerung und in seiner Phantasie ist er immer noch der junge Mann, der die Frauen liebte, sie verehrte und auf Händen trug, doch niemals über irgendeine Schwelle. Keine hielt er fest, weil ihm seine Freiheit immer wichtiger war. Die vielen Jahre auf See, ohne dauerhaften Hafen, immer auf der Jagd nach neuen Abenteuern, die Ungebundenheit bei allem, was er unternahm – bis er krank wurde. Nur eines ist ihm geblieben: die Einsamkeit. Dieses Schicksal teilt er mit einigen anderen in diesem Heim am Rande des Stadtparks.
Nur er hat diesen Schandfleck vor Augen. Nie war auch nur ein lebendiges Wesen auf diesem Balkon zu sehen. Ratten oder Mäuse hätte er mindestens erwartet, Vögel, die sich auf dem Geländer ausruhen. Doch das tun sie lieber oben drüber, lassen ihren Kot folgerichtig auf das Elend darunter fallen. Im Frühjahr kam immer eine Amsel, früh morgens, wenn es noch dunkel war und er schon länger wach. Die junge Frau von oben lockte sie wohl mit Futter, um in den Genuss des schönen Gesangs zu kommen, in Frühlingsstimmung. Vielleicht ließ sie sich davon wecken. Denn auch an diesen heißen Hundstagen sieht er, wie sie in aller Frühe hinaustritt, ihre Arme ausbreitet und herzhaft gähnt, sieht ihren Mund weit offen wie den Schnabel eines Kükens. Später ertönt sanfte Musik von oben, dann sieht er sie mal auf-, mal wieder abtauchen, das lange blonde Haar zu einem Dutt gebunden. Er hat eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass sie Yoga-Übungen macht. Sie hat ja Platz…
Und er Zeit. Er denkt nicht darüber nach, wie viel davon bleibt. Die Gnade des Alters vielleicht. Ohnehin denkt er nicht an die Zukunft. Warum auch? Nur noch wenig beschäftigt ihn, die Bilder im Fernsehen rauschen vorbei, Meldungen über diese Krankheit, die er nicht fürchtet. Er weiß nur, dass er nicht mehr raus darf. Er kann es auch gar nicht mehr. Und Besuch bekommt er nur von seinem Pfleger oder dem Arzt. Sein Essen kriegt er schon lange aufs Zimmer. Das war schon vorher so. Nein, die Seuche macht ihm keine Angst. Warum auch? Seine Welt ist die Vergangenheit. Erinnerungen, Bilder, Gerüche, Musik, das Meer, immer wieder das Meer – und der Wind. Den spürt er auch jetzt zu gerne. Und immer wenn eine Brise aufkommt auf seinem kleinen Balkon, ist es, als stehe er wieder an der Reling, die salzige Luft in der Nase, den Schiffsdiesel, der ihm nie unangenehm war, den fischigen Duft nach Seetang. Er liebt das Meer über alles. Die Liebe zu einer Frau hat ihn in den Süden gelockt zu Füßen der Berge. Da ist er geblieben – die Liebe nicht…
Der Duft nach Fisch. Wann gab es das zuletzt? Noch nie. Die Heimleitung hat ihn von der Speisekarte verbannt, nachdem eine Bewohnerin fast an einer Gräte erstickt wäre. Das war lange vor seinem Einzug, so lange, dass es fast nicht mehr wahr ist. Jedenfalls hat er seither keinen Fisch mehr gegessen. Nicht mal die panierten Stäbchen gibt es, erst recht nicht Meeresfrüchte, die offenbar das Budget sprengen. Dabei liebt er das alles so sehr; es ist sein altes Leben. Vielleicht mögen die Schwaben keinen Fisch, genau weiß er das nicht. Er findet Schwaben seltsam. Doch wie kommt der Duft in seine Nase? Eindeutig Fisch! Gebraten, mit etwas Knoblauch, in Butter. Oder es ist Kräuterbutter. Jetzt weiß er, woher der Duft kommt. Oben auf dem Balkon sieht er etwas Qualm. Und dann die Frau.
„Puh, das ist ganz schön heftig, was? Ich hoffe, ich hab sie nicht belästigt!“ Die junge Frau winkt ihm entschuldigend zu, in der Hand einen Pfannenwender. Noch ehe er antworten kann, ist sie wieder verschwunden. Nein, im Gegenteil. Wie gern wäre er jetzt dort oben. In diesem Küchendunst. Küchenduft. Bei ihr. Ob sie ihn eingeladen hätte, wenn er nicht hier, auf der anderen Seite des Lebens wäre? Noch jünger und fitter? Er spürt dem Duft nach, schließt dazu die Augen, sieht jetzt aus wie ein Genießer, ein Connaisseur. Auf seine Nase hat er sich immer verlassen können, sie funktioniert noch so gut wie ehedem, wie auch sein Geschmackssinn, der einem vorzüglichen Mahl alle Ehre machen würde. Schlecht gekocht hat er selber nicht, nun kann er es leider nicht mehr. Wie auch in dieser Zelle? Als er die Augen aufschlägt, lächelt ihn die Frau von oben an. „Mögen Sie Fisch?“
Was für eine Frage. Er weiß nicht, was er sagen soll.
Die Frau lacht. „Dumme Frage, gell? Ich würde Ihnen ja gerne was anbieten. Das ist viel zu viel für mich alleine…“
Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Aber sie hat ja recht, es geht nicht. Er ist hier und sie dort. Im richtigen Leben. Mit Fisch. Und aller Freiheit. Es ist zum Haare raufen. Erstmals seit langem spürt er, was noch möglich wäre. Unwillkürlich strafft er seinen Körper. Er will leben. Noch einmal Fisch essen. Und wenn es das letzte ist. So sehr sehnt er sich jetzt danach, dass er ganz zittrig wird. Obwohl er schon zu Mittag gegessen hat, wie immer viel zu früh, daran wird er sich nie gewöhnen.
„Wollen Sie ernsthaft?“ Die Frau ist unsicher geworden, sieht den Mann auf dem Balkon nicken – erst langsam, dann immer heftiger. Dabei leckt er sich unbeholfen die Lippen. Wie ein Kind sieht er aus, nein wie früher ihr Hund, der sich am Tisch nach einer Scheibe Wurst reckt. Zum Glück ist die Balkonbrüstung hoch, seniorengerecht, keine Gefahr für Leib und Leben. Sie hat eine Idee.
„Warten Sie!“ Es dauert einen Moment, dann ist sie wieder da. „Gehen Sie bitte einen Schritt zurück, okay?“
Er weiß nicht, was gerade geschieht, tut aber, worum sie ihn bittet. So steht er drinnen an der Schwelle und sieht zu, wie etwas Blaues auf seinem Balkon landet, wieder nach vorne rutscht und sich dann in seinem Stuhl verfängt. Er tritt wieder hinaus, sieht die blaue Leine mit einem roten Karabinerhaken an der Stuhllehne. Genau besehen sind es zwei Stränge. Aber was soll er damit? Was soll er mit einer Wäscheleine?
„Festmachen!“ Die Stimme der Frau klingt etwas gedämpft. Es kommt ihm vor, als ob sie etwas Verbotenes im Schilde führt. Was hat sie vor?
„Na, da!“ Sie zeigt auf eine Stelle vor seiner Brust, bildet mit ihren Händen einen Trichter um ihren Mund, flüstert jetzt fast. „Da, am Geländer!“
Er begreift endlich. Als er den Haken befestigt hat, zieht die Frau die Leine straff. Wie oft er das gesehen hat, den immer gleichen Vorgang an allen möglichen Häfen der Welt. Er kann noch immer alle Knoten, braucht sie aber nicht mehr, auch jetzt nicht.
Nur einen Moment später hebt die Frau einen kleinen Korb über die Brüstung. Mit offenem Mund verfolgt er, wie sich der Korb auf ihn zu bewegt, hört wie die Leine durch den Karabinerhaken surrt. Das hat er als Kind mal gemacht, mit seinem besten Freund, als sie Seeräuber gespielt haben und er seinem Kameraden in der Festung heimlich „Proviant“ zukommen ließ. Ein Seilzug. Was für eine Idee! Was für eine Frau! Wäre er noch jung, dann… Er ist wieder jung! Andockmanöver geglückt – aus dem Korb dringt der Duft nach Bratfisch, das Essen muss noch warm sein. Er greift nach dem Korb, sieht die Schale mit dem Filet, mit Kartoffelsalat, dem einzig wahren, so wie ihn seine Mutter immer gemacht hat: mit Sauerrahm, Gewürzgürkchen und Ei – nicht wie hier mit Fleischbrühe und Essig. Sogar Besteck hat die Frau dazugelegt, eine Serviette mit Guten Appetit-Wünschen in zahlreichen Sprachen.
„Danke“, ruft er, gar nicht laut, denn seine Stimme ist dünn geworden. Seemannslieder kann er schon lange nicht mehr gröhlen. Dafür isst er jetzt wie ein Seebär, fühlt sich um Jahre jünger, hätte jetzt gern ein Bier, aber er will auch nicht klagen, denn das Essen ist vorzüglich. Der Fisch ist nur in Mehl gewendet, sparsam gewürzt, nur einen Hauch von Knoblauch schmeckt er heraus, die frischen Kräuter wohl dosiert und dazu der deftige Kartoffelsalat, keine Ofenkartoffeln, kein Schi Schi. Er verputzt die ganze Schüssel, ist geneigt, sie noch auszuschlecken, hätte gern ein Stück Brot, doch man kann nicht alles haben. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist er rundum glücklich. Er umfasst sein schmales Bäuchlein, räuspert aus tiefstem Bedürfnis. Ein Kompliment an die Köchin, ob sie es gehört hat? Ob er diesen tollkühnen Streich bereuen wird?
Wenig später ist es, als hätte es die geheime Aktion nie gegeben, reinstes Seemannsgarn also, bis auf die Tatsache, dass sich die Leine zum Schluss noch verhakt hat. Und zwar dauerhaft. Nun gut, das Personal würde sicher keinen Verdacht schöpfen. Und dass das blaue Band jetzt im Müllhaufen des anderen Balkons feststeckt, würde die Bewohner dort wohl am wenigsten stören. Ihn selbst schon gar nicht, denn es wird ihn nun immer an seinen Genuss erinnern, den Höhepunkt dieses Sommers. Und der Kram dahinter ist ihm jetzt egal. Schiet wat drup, hat sein alter Maat immer gesagt. Er muss lachen, als es ihm wieder einfällt. Doch in der Nacht wird aus dem Spaß bitterer Ernst.
Der Pfleger findet ihn bewusstlos vor der Toilette, komplett eingedreckt, und er ist auch nicht sauber, als er ins Krankenhaus gebracht wird. Sein Zustand verschlechtert sich binnen Tagesfrist, in der nächsten Nacht hat er Atemnot, hustet in die Sauerstoffmaske. Er überlebt die Intensivstation nicht. Das Klinikteam ist eingespielt und wundert sich keineswegs über den positiven Test. Die Heimleitung kann sich indes keinen Reim darauf machen, testet die Kontaktpersonen, stellt sie frei und belässt es ansonsten bei den bisherigen Hygienemaßnahmen. Nur wenige Tage später steht ein anderer Mann auf dem kleinen Balkon, sieht kopfschüttelnd auf den Müllhaufen, die blaue Leine, der sein Blick nach oben folgt. Bis zu der Frau. Sie rührt sich nicht, starrt ihn nur an. Wie versteinert steht sie da.