So viel neu. So viele erste Erfahrungen. 1980, endlich erwachsen. Dem rechtlichen Status des Minderjährigen entwachsen. Führerschein, erster Unfall, nichts Schlimmes, aber ein Dämpfer für die neue Freiheit. Unsere Band ist zur Hälfte volljährig und tritt jetzt selbstbewusster auf. Meine Haare sind so lang wie sie nie waren und nie wieder sein werden. Ich fühle mich wie frisch gehäutet, im übertragenen Sinn, denn ich habe immer noch Pubertätspickel. Ich fühle mich stark, voller Energie, dabei bin ich dünn, fast dürr, einer Schlägerei nicht gewachsen, die jeden Tag hinter den Hecken meiner Provinz lauert. Zum Glück trage ich keine Brille, bin auch kein Musterschüler, denn auf die haben es die prekären Burschen besonders abgesehen, die eher früher als später im Knast landen. Einer von ihnen tanzt mit seiner Perle zu unserer Musik. Wir spielen, sie tanzen! Wochen später lädt der spätere Zuhälter mich zum Bier ein, ich scheine ihn beeindruckt zu haben, sieh mal an. Ich bin 18, aber alles andere als selbstbewusst. Deshalb kann ich es zunächst kaum glauben, dass ein Mädchen auf mich stehen soll.
Auch das hat mit einem Konzert unserer Band zu tun, einem besonders miserablen, weil wir uns dauernd verspielt haben und sich immer eine Gitarre verstimmt hat. Dabei hat uns der örtliche Musikladenbesitzer sein Equipment ausgeliehen, testweise und komplett umsonst. Vielleicht hat uns das gehemmt. Trotzdem sind mir die drei Mädchen im Mehrzweckraum des katholischen Pfarrheims nicht entgangen. Schon wegen ihres übertriebenen Beifalls, der so gar nicht zum Dauergequatsche gepasst hat. Weniger die Musik hat sie interessiert, sondern mehr der Umstand, dass endlich was los ist auf dem Dorf. Zwei schlechte Konzerte später habe ich eine der drei – diese eine – kennengelernt, in der Nacht auf den 17. Juni 1980, den Tag der Deutschen Einheit, Feiertag.
Es ist die Party ihrer Jahrgangsstufe, eine Art Abschiedsfest zum Schuljahresende. Einige würden die Schule verlassen, eine Ausbildung beginnen – so wie sie auch. Ich dagegen habe mein Abitur noch vor mir, das mir zwar wichtig erscheint, aber nicht so sehr, dass ich mich ausgerechnet jetzt den neuen Versuchungen verschließe. Vielleicht sind Mädchen in dem Alter anders, vernünftiger, pragmatischer. Ich bin ein Opfer meiner Gefühle, vernachlässige alles andere dafür, bereit wie Goethes Werther, sogar für die Liebe zu sterben. Diese Liebe habe ich gerade vor mir. Ich fordere sie heraus. Heute, an diesem hochsommerlichen Abend muss es endlich sein.
Sie hat mich eingeladen. Dabei bin ich doch fremd hier. Es ist ihre Klasse, die hier feiert. Laut, ausgelassen, exzessiv. Das geht, denn sie feiern in einer Hütte fernab irgendeines Bauernhofs oder einer Ortschaft. Ich komme spät, sie wollte es so und es ist mir auch lieber. Pubertäres Gelächter empfängt mich, lallendes Unverständnis. Was ich denn hier wolle? Ich halte Ausschau nach ihr. Wenn sie die Sache nicht aufklärt, bin ich geliefert. Da ist sie. Sie sollen mal schön ruhig sein, ich sei eingeladen, von ihr höchstpersönlich, ob es ihnen nun passe oder nicht. Sie grinsen nur. Sie nimmt mich beiseite, führt mich auf die Holzterrasse im hinteren Bereich. Wir setzen uns unter das Vordach. Sie auf die Bank, ich auf einen Stuhl. Der Tisch ist zwischen uns. Sie sieht mich nicht an, auch ich meide ihren Blick. Wir schweigen betreten. Ich kann das nicht. Ob ich was trinken wolle, fragt sie. Ich verneine. Ich bin ja mit dem Käfer da, muss später noch nach Hause. Einige wollen hier übernachten, sie auch. Das würde noch was werden, so besoffen wie die alle schon sind. Sie habe noch nichts getrunken, gegessen auch nicht – zu aufgeregt. Wieso, frage ich blöd, ärgere mich. Doch sie grinst, sieht an mir vorbei zu den nahen Bäumen.
Erste Blitze zucken. Ob es auch grollt, können wir nicht hören. Drinnen wird die Musik lauter und auch das Gegröhle, das zunehmend heiser klingt. Von Zeit zu Zeit kommt jemand raus, torkelt an uns vorbei oder lässt einen dummen Spruch ab. Sie schüttelt den Kopf. Es seien noch halbe Kinder. Und vielleicht sei das keine so gute Idee gewesen, mich hierher zu bestellen. Andererseits… Es blitzt wieder. Jetzt höre ich auch Donner. Das Gewitter kommt näher. Sie blickt mich an, kurz nur. Wie verloren sie dort sitzt. Ich muss was tun. Aber was? Wie habe ich mich vor diesem Moment gefürchtet. Ich bin nicht gut darin. Andere sind viel souveräner, die erfolgreichsten haben ein Motorrad, sind überhaupt viel cooler als ich. Dass ich Musik mache, ganz passabel Gitarre spielen und singen kann, hilft mir jetzt nicht. Ich beginne zu stottern. Ob sie es nicht auch blöd finde, dass man uns verkuppeln wolle – oje… „Wieso blöd?“ fragt sie. Sie will mir helfen, das spüre ich. Doch ich stammele was von „selber groß sein“, aber wenn es schon so sei: „Ich bin interessiert.“ Au weia… Stille. Selbst die Musik scheint jetzt leiser zu sein. Für einen Moment glaube ich, alle haben nur darauf gewartet, dass es endlich passiert. Aber wie blöd stelle ich mich eigentlich an? Sie legt ihre Hand auf den Tisch, streckt sie mir entgegen.
„Und du?“ frage ich. Meine Stimme zittert.
„Ich auch“, flüstert sie.
Ich stehe auf, setze mich zu ihr auf die Bank, lege einen Arm um sie. Wie unbeholfen. Muss ich sie jetzt nicht küssen? Ob das so schön wird wie auf der Abschlussfeier zwei Jahre zuvor, als sämtliche Jungen dieses eine Mädchen nach der Reihe geküsst haben, mit Zunge? Oder so unangenehm wie nach dem Tanzkurs, als ich meine Tanzpartnerin so weit hatte oder es zumindest dachte, meine Zunge aber immer ins Leere ging, ihre Zähne an meine Lippen stießen, als wollte sie mich beißen, und sie beim Abschlussball in den Armen eines anderen Jungen lag, auf den sie schon die ganze Zeit scharf gewesen war? Ich spüre ihre kühle Nasenspitze seitlich an meinem Hals. Wir sitzen steif nebeneinander und schweigen. Mein Arm liegt um ihre Schultern, als gehörte er nicht zu mir. Für einen Moment ist es taghell. Fast augenblicklich knallt es über uns. Dicke Tropfen klatschen auf die Bohlen der Veranda, verdichten sich schnell zu einem Platzregen. Er trommelt auf das Holz, während sich Blitze und Donner abwechseln. Sie rückt enger an mich heran. Ob wir nicht reinkommen wollen, ruft jemand durch den Türspalt. Doch wir sitzen im Trockenen, eng umschlungen, ihre Lippen finden meinen Mund, der darauf nicht vorbereitet ist, jedenfalls nicht in diesem Moment. In welchem denn sonst? Ihre Lippen sind trocken, aber weich. Ich öffne meine etwas weiter, wage mich mit meiner Zunge vor, begegne ihrer, spiele um sie herum, viel zu steif.
Ich rieche den Sommerregen, das Ozon der aufgeladenen Luft, ihre Haut, den Moschusduft ihres Parfums, das Henna ihrer Haare, die sie wohl gerade frisch gefärbt hat. Ich mag dieses Rot. Ich streiche ihr übers Haar, zwinge mich zu ruhigen Bewegungen, während wir uns weiter küssen, versunken ineinander, noch immer etwas unbeholfen. Mein Unterleib zieht sich zusammen wie beim Schaukeln als Kind oder auf der Rückbank des alten Käfers, der an einer Kuppe kurz in der Luft schwebt, um mit ächzenden Stoßdämpfern wieder auf die Straße zu prallen. So schön wie jetzt ist es nie gewesen, auch nicht, wenn ich es mir selbst gemacht habe. Unsere Hände bleiben brav, fast andächtig züchtig. An diesem Abend entdecken wir unsere Körper nur bis zu den Schultern. Es würde noch Wochen dauern, bis wir zu tieferen Regionen vordringen. Denn wir werden uns nicht so schnell wiedersehen. Während das Gewitter abzieht, der Regen nachlässt und es auch drinnen immer ruhiger wird, verspricht sie mir, jeden Tag einen Brief aus Berlin zu schreiben, wo sie in der WG ihrer älteren Schwester wohnen wird. Es sei eben schon lange geplant, jetzt wolle sie nicht mehr absagen, außerdem freue sie sich auf Berlin. Da müsse ich unbedingt auch mal hin, das sei eine ganze andere Welt als das öde Landleben hier.
Später nach unzähligen Küssen – oder einem ganz langen, immer schöneren – trennen wir uns. Sie sieht mir nach, als ich mit dem Käfer aus der matschigen Einfahrt rolle, auf den Bauernweg zu, der mich nach wenigen Hundert Metern auf die Straße in die Kleinstadt zurückführt. Ich kurbele das Seitenfenster herunter, sauge den Duft des nassen, dampfenden Asphalts durch die Nase, den süßen, schweren Geruch der Blüten. Einzelne schwere Tropfen prasseln von den Bäumen herunter auf das Autodach. Alles ist sinnlich, ich fühle mich wie in einem Traum, so wunderschön und so unglaublich. Ich bin mit ihr zusammen. Und auch wieder nicht. Die nächsten drei Wochen werden hart. Ich weiß jetzt schon, dass ich mich nach ihr verzehren werde, immer in Angst, dass sie im fernen Berlin einen anderen Jungen kennenlernen könnte. Einen mit noch längeren Haaren, einen erfahreneren, viel cooleren Typen als mich. Ob ich es in ihren Briefen lesen werde? Ob sie mir überhaupt jeden Tag schreiben wird? Ob das Papier nach ihr duften wird? Ob ich mir ihrer sicher sein kann, wenn ich ihre Briefe wieder und wieder lesen werde? Ich weiß nicht, was wird, weiß noch nicht, dass meine erste Liebe drei Jahre dauern wird. Und dass sie enden wird, wie sie begann – mit einem Sommergewitter.
Geschrieben am 17. Juni 2020 – vierzig Jahre später.