Jener Sommer

Meine Hand wird ruhiger, bleibt flach auf dem Tisch liegen. Ein fast unmerkliches Kribbeln in den Fingerspitzen, ein letzter leiser Impuls zu begreifen, was soeben passiert ist. Ihre Hand hat dicht neben meiner gelegen. Wir haben uns nicht berührt, nicht einmal heute. Und jetzt, da die Nähe so greifbar ist, verstummen wir, senken unsere Blicke, beben leise voneinander weg. Aus.

Vom Tresen her sind die Geräusche eines ruhigen Kneipenabends zu hören. Leises Gemurmel, das Brummen der Kühlung, Gläser, die gespült werden. Es ist Samstag und draußen noch hell. Den Abend zuvor haben sich die Gäste zwischen den wenigen Tischen und gegen den hufeisenförmigen Ausschank gedrängelt. Das vielstimmige Lachen, die fröhlichen Erzählungen unzähliger Sommererlebnisse, Küsse und Umarmungen in einem Dunst aus Tabakrauch, Schweiß und Bier – all dies scheint das Holz der getäfelten Wände jetzt, einen Tag später, wieder auszuatmen wie wehmütige Erinnerungen an eine verlorene Zeit, sie erreichen auch unsere kleine Nische, in die sich verliebte Paare so gerne zurückziehen. Die Handvoll Gäste heute haben uns wohl für ein solches Paar gehalten, haben wissend geschmunzelt, als wir an unserem Tisch Platz nahmen. Dabei sind wir mehr oder weniger hierher geflüchtet, in „unsere“ Kneipe, nachdem uns der Ausflug zu einem dieser Musikläden mit einem Mal enttäuschend fad vorgekommen war.

Eigentlich hatte alles wie immer begonnen und doch war an diesem frühen Abend irgendetwas anders gewesen. Die Art, wie Barbara zu mir in den Wagen stieg, mich umarmte und während der Fahrt immer wieder von der Seite ansah. Anders als sonst schwiegen wir diesmal fast die ganze Zeit. Die kleinen Erlebnisse der Woche waren schnell erzählt gewesen. Die großen Themen interessierten uns heute nicht. Das vertraute Motorgeräusch meines Käfers hüllte uns ein wie ein schützender Kokon, aber in ihm herrschte diese neue merkwürdige Anspannung wie eine bohrende Kraft, die hinaus wollte. Was ist eigentlich los, fragte ich mich. Habe ich etwas Falsches gesagt? Habe ich etwas Wichtiges vergessen? Im stroboskopischen Schatten der vorbeifliegenden Bäume ging ich noch einmal die letzten Tage durch. Ich hatte einfach angerufen und mich, wie so oft in den vergangenen Wochen, mit Barbara verabredet. Ich erinnerte mich an nichts, was mich seit dem letzten Mal hätte stutzig machen sollen. Verstohlen sah ich sie an, sie sah starr nach vorne. Was für eine Frau! Was für ein Sommer mit dieser Frau! Wie waren wir eigentlich so nah aneinander geraten?

Ich hatte meine erste, meine große Liebe verloren. Mit 21. Drei Jahre waren wir zusammen gewesen. Es war ein verstörender Abgang, sie hatte jemanden kennengelernt, einen zehn Jahre älteren Mann – Arzt, Halbgott in weiß. Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, sah er auch noch aus wie einer, den ich verehrte: wie John Lennon auf der „Abbey Road“. Mir brach das Herz, ich war zutiefst verletzt und ich litt. Dabei nahm der Frühling gerade Fahrt auf; es war Anfang Mai, alles um mich herum startete lustvoll in den Sommer, nur ich hatte den größten Interruptus meines Lebens. Voller Selbstmitleid und Sehnsucht schleppte ich mich durch den Alltag, leckte meine Wunden und haderte mit der Welt, mit meinem noch so jungen und schon so nutzlos gewordenen Leben. Sie fehlte mir so sehr. Es tat so weh. Und ich war mir sicher, es würde ewig weh tun. Bei aller Trübsal war ich ruhelos, wie ein einsamer Wolf trieb ich mich auf Partys herum und wunderte mich allen Ernstes, dass ich keine Beute machte. Das Leiden stand mir in den Augen, welche Frau mochte sich darauf einlassen? Eine wollte es tatsächlich: Ausgerechnet meine langjährige Freundin und Studienkollegin, an deren Schulter ich mich ausweinte, die mich tröstete und mit mir litt, hatte mir nach einer heillos durchzechten Nacht überraschend ihre Liebe gestanden. Wie konnte ich nur so blind gewesen sein?

Ich floh von heute auf morgen, noch weit vor den Semesterferien aus Münster, fuhr widerwillig nach Hause, in das Kaff, das ich glaubte hinter mich gelassen zu haben. Ich weiß nicht, was ich erwartete, wenn nicht das eigentlich Naheliegende: Meine Flucht mündete in Folter. Ich igelte mich ein, lag apathisch und zugleich voll zehrender Sehnsucht im Bett meines Jugendzimmers, weinte mein Kopfkissen nass, während ich wieder und wieder ihre Cassette abspielte. Sie hatte sie mir am Tag nach unserem ersten Kuss geschenkt. Die Musik war untrennbar mit diesem Juniabend 1980, dem Tag der Deutschen Einheit, verbunden, ist es auf abgeklärtere Weise sogar noch heute. Ihre Klänge trugen mich unmittelbar zurück in ihre Arme, ließen mich fast körperlich spüren, wie sie mich küsst, leidenschaftlich und innig, umtost von Partygegröhle und aufgeladen von heftigem Sommergewitter, ließen mich die duftenden Nebelschwaden des dampfenden Asphalts wieder riechen, durch die ich im Morgengrauen allein nach Hause fuhr, während mein Herz schier überquoll von dieser neuen, hoffnungsvollen und mit jedem Kilometer sehnsüchtiger werdenden Liebe, die ich so rein und ursprünglich empfand und zugleich einfach nicht fassen konnte. In solchen Nächten in meinem Jugendzimmer, mit dem Blondie-Poster an der Wand, wollte ich leiden. Nur so konnte ich sie wieder und wieder fühlen, sie riechen, ihr hennagefärbtes Haar, ihr Moschus-Parfum, sie nah bei mir haben und weiter lieben. So konnte es unmöglich weitergehen.

Dann stand sie plötzlich vor mir, auf einer privaten Party, als ich schon mein zehntes Bier intus hatte und, wie so oft in letzter Zeit, erbarmungswürdig schwankte. Barbara, eine unsagbar schöne, stets lachende Frau in meinem Alter, die ich nach Schulschluss oft in der kleinen Fußgängerzone unseres Ortes getroffen hatte, mit der ich dann immer herrlich reden und lachen konnte, darüber oft das Mittagessen zuhause vergaß, für die ich Zuneigung und Bewunderung spürte, in die ich mich verknallte, wohl wissend, dass sie einen festen Freund mit Motorrad hatte und kaum begreifend, warum diese tolle Frau sich Zeit – so viel Zeit! – für mich – für mich! – nahm und mit ihrer natürlichen Schönheit, ihrem unfassbar langen, lockigen, dunklen Haar, ihren großen, blauen Augen, ihrer ganzen lebensbejahenden Art mich – ausgerechnet mich! – sogar zu mögen schien und damit mein noch schüchternes, stets mit sich haderndes Selbstvertrauen als Mann stärkte, mich schlagartig reifen ließ – diese wundervolle Frau trat an jenem Abend in mein Leben. Und so wurde es doch noch Sommer.

Wir trafen uns von da an fast jeden Tag, fuhren durch die Gegend, durchwanderten stundenlang Moore und Wälder, picknickten auf blumenübersäten Wiesen, warteten auf den goldenen Sonnenuntergang, inhalierten wie Süchtige den milden Sommerwind mit seinem Duft nach frisch gemähtem Heu, erzählten uns auf unseren Streifzügen unsere Gedanken und Gefühle, diskutierten und philosophierten über die Welt, den drohenden Atomkrieg, alberten herum – und klammerten uns aneinander fest. Auch sie stand vor den Scherben ihrer ersten großen Liebe, nicht ganz so leidend wie ich, weil ihre Beziehung offenbar an ein natürliches Ende gelangt war. Unsere ähnlichen Schicksale schienen uns gleichwohl zu verbinden. Mühelos, als hätte es die Zwischenzeit nicht gegeben, nahmen wir den Ball wieder auf, den wir Jahre zuvor in der Fußgängerzone hatten liegen lassen. Sie war noch immer so wie ich sie kannte. Und sie war mir vom ersten Moment unseres Wiedersehens an vertraut. Bei aller Nähe fühlten wir uns jedoch mehr als Seelenverwandte, das Körperliche beschränkte sich auf Umarmungen, vielleicht einen flüchtigen Kuss, wenn wir uns begrüßten und verabschiedeten. Über die Art unserer Beziehung machte ich mir nicht viele Gedanken, zu stark war noch die Trauer in mir, und wenn sich Barbara in meinen Kopf drängte, schob ich sie gleich sanft wieder hinaus. Ich würde sie ja am nächsten Tag schon wiedersehen, mich freuen, einfach nur auf der Welt zu sein und jeden Augenblick dieses fabelhaften Sommers zu genießen.

Dann war alles anders. Plötzlich lag ein Hauch von Herbst in der Luft. Es hatte sich abgekühlt und ich trug erstmals seit Wochen wieder eine Jacke. Die Scheiben im Wagen waren beschlagen, die Heizung ging ausgerechnet jetzt nicht, während sie selbstverständlich an den heißen Tagen auf höchster Stufe lief. Typisch Käfer eben. Dennoch mochte ich die Knutschkugel. Blöder Spitzname. In meinem Wagen hatte ich bisher nur eine Frau, meine erste große Liebe, geknutscht. Daraus war dann immer gleich mehr geworden, der mangelnden Gelegenheit wegen und der schmalen, stets staubigen Rostgeruch ausdünstenden Rückbank zum Trotz. Das Ortsschild des Nachbarstädtchens kam in Sicht, riss mich aus meinen Gedanken. Barbara und ich kannten den Weg auswendig, waren etliche Male hier gewesen, noch bevor wir uns auf jener Party wiedergesehen hatten. Auf einem Schottergelände im Industriegebiet fanden wir weiter hinten eine Parklücke. Noch immer schweigend begaben wir uns zu dem alten Fabrikgebäude, das seit einigen Jahren als Konzert- und Tanzlokal diente. Der Eintritt kostete zehn Mark, Getränk inklusive. Seite an Seite betraten wir den verrauchten Saal, graue Schwaden waberten über den noch wenigen Menschen, die an der Tanzfläche lümmelten. So früh am Abend kam die Musik noch von Cassette und war einfach zu schlecht zum Tanzen. Wir holten uns ein Bier an der versifften Bar, alles in diesem Laden war klebrig und schmutzig. Warum taten wir uns das eigentlich an? Wie abwesend wippten wir mit den Füßen zum Takt der Musik – und blickten aneinander vorbei. Zu laut zum Reden. Barbara stellte ihr Glas ab, hielt sich demonstrativ die Ohren zu und deutete mit dem Kopf Richtung Ausgang. Recht hatte sie, dies war kein Ort zum Bleiben. Schon gar nicht heute.

Noch ehe wir den Käfer erreichten, begannen unsere Augen zu tränen, Barbara griff sich an den Hals und fing an zu husten. Dann spürte ich es auch. Ich musste würgen, meine Augen brannten. Tränengas! Irgendein Idiot hatte es hier versprüht. Hustend rannten wir das letzte Stück zum Auto. Dort war die Luft wieder besser, wir atmeten tief ein. Ich hatte für alle Fälle eine Flasche Wasser im Wagen. Und eine Rolle Klopapier. Hektisch öffnete ich die Tür und nahm die Sachen heraus. Barbara stand keuchend an der Beifahrertür, ihre Augen waren schon ganz verquollen. Fluchend riss ich ein Stück Papier von der Rolle, ließ Wasser darüber laufen und eilte um den Wagen herum zu Barbara. Sie kniff die Augen zusammen, wollte sie reiben, doch ich hielt ihren rechten Arm fest, um im selben Moment den klatschnassen Papierbollen auf ihr linkes Auge zu drücken. Ganz sanft. Sie blinzelte überrascht, ich wechselte zum rechten Auge, sah durch meinen eigenen Tränenschleier, wie sie lächelte und die Linderung geschehen ließ – sie zu genießen schien. Wenig später umfasste sie mein Handgelenk, ihre Lippen näherten sich meinen Augen. Nein, tu das nicht, dachte ich, du kannst dich verletzen. Mehr noch als das fürchtete ich die plötzliche Intimität. Warum eigentlich, fragte ich mich auch jetzt.

Auf der Rückfahrt lächelte mich Barbara immer wieder an, schüttelte einige Male ungläubig den Kopf. Wir überspielten die seltsame Situation von vorhin, lachten über unsere immer noch leicht erröteten Gesichter und mehr noch über den merkwürdigen Umstand, nicht etwa bei einer Anti-Atomkraft-Demo, sondern auf einem x-beliebigen Parkplatz am Arsch der Welt eine Ladung Tränengas abbekriegt zu haben. Noch in der Disco hatten wir beschlossen, zu unserem Heimatort zurückzufahren, in der Hoffnung, dass „unsere“ Kneipe noch nicht so voll war. Wir mussten endlich reden. Ernsthaft reden. Über uns. Ich ahnte, dass es nicht nur für mich ein Kraftakt werden würde. Als wir schließlich in unserer Nische saßen, gab es kein Entrinnen mehr. Das Bestellen der zwei Biere, der Smalltalk mit dem Wirt, Toilettengänge – sie verschafften uns nur einen geringen Aufschub. Ein Schluck noch, dann… Barbara holte tief Luft. Sie schien aufgeregt zu sein, ihr Atem ging schnell. Und doch sah sie mir direkt in die Augen.

Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Anders als sonst rang ich nach Worten. Ich, der Germanistikstudent, der Alltagsphilosoph, der Besserwisser. Also begann sie.
Dass sie diesen Sommer mit mir genossen habe. So wie keinen zuvor. Tiefes Durchatmen. Dass das etwas Besonderes sei zwischen uns. Pause. Ein vorsichtiger, scheuer Blick zu mir. Ob ich nicht auch so empfinde? Dass wir uns zwar nicht gesucht, aber doch wohl gefunden haben.
„Zwei Herzen… “
„… ohne Halt“, ergänzte ich und erschrak über meine eigenen Worte. Meine Stimme war belegt, ich räusperte mich.
„Bitte?“ Barbara war irritiert.
„Zwei Herzen ohne Halt.“
„Wieso ohne Halt?“
„Sie schlagen. Wie wild schlagen sie.“ Ich hatte meine Sprache wiedergefunden.
„Meines auf jeden Fall.“ Barbara lachte nervös, schnappte nervös nach Luft.
„Meines auch.“
„Aha?“
„Sie schlagen. Vielleicht sogar im Takt. Aber nicht füreinander. Sie geben einander keinen Halt.“ Ich hatte einen Kloß im Hals.
Barbara wich zurück. Der Wirt sah herüber. Wieso schaute er so verärgert?

Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ich hatte auf der letzten Weihnachtsfeier genau in dieser Kneipe mit seiner Schwester geknutscht, fast den ganzen Abend lang. Diese Frau hatte mich scharf gemacht, mich gereizt. Vielleicht, weil sie älter war. Sogar deutlich älter. Sie hatte an der Theke gesessen und mich beobachtet. Ihr Blick schien mich ausziehen zu wollen, da konnte ich nicht mehr anders, ließ meinen Gesprächspartner einfach stehen. Nach nur wenigen Worten und einigen tiefen Augen-Blicken passierte es. Unsere Lippen fanden sich wie von selbst. Wir versanken ineinander, tauchten immer nur kurz auf, um gierig von dem furchtbar süßen Wein zu trinken, den uns der Wirt mit wissendem, aber abschätzigem Blick immer wieder auffüllte. Es war eine ganz neue Erfahrung für meine einsame Seele, meine Freundin hatte mich ausgerechnet an diesem Abend mehr oder weniger freiwillig versetzt, ihre Familie hatte nach ihr verlangt, nachdem die Tochter das ganze Jahr lieber in Lippstadt, ihrem Ausbildungsort, geblieben war – und ich natürlich so oft wie möglich bei ihr. Vielleicht wollte ich mich einfach dafür rächen, dass sie ausgerechnet an diesem Abend, an dem alle jungen Paare in unserem Heimatort zusammenkamen, nicht an meiner Seite war. Jedenfalls genoss ich die Liebkosungen einer erfahrenen Frau, fühlte mich angenommen, anziehend und ein wenig auch missbraucht, was mich nur noch mehr anstachelte. Doch als wir frühmorgens, begleitet von einigem sorgenvollen Kopfschütteln des Wirts, aus der Kneipe torkelten, verließ mich der Mut. Meine Begleiterin spürte es. Sanft griff sie mir in den Schritt, sie wohne nicht weit weg, hauchte sie unter fortwährenden Küssen, doch sie schmeckten jetzt schal, die Stimmung war dahin. Ich fühlte mich plötzlich stocknüchtern, entschuldigte mich mit einer linkischen Handbewegung und wandte mich abrupt zum Gehen. Im Dauerlauf hastete ich nach Hause, zurück in die harmlose Welt meines Jugendzimmers.

So sehr wie an jenem Morgen danach, so sehr schäme ich mich auch jetzt wieder. Ich wage es nicht, Barbara anzusehen.
„Schade.“ Ihr Atem hat sich beruhigt. „Ich dachte… “
Mit einem Ruck schiebt sie ihr halbvolles Glas von sich weg. Ich trinke meines in einem Zug leer, setze es behutsam daneben.
„Es tut mir leid.“ Mehr bekomme ich nicht heraus.
„Tut es das?“ Ihre Stimme klingt gereizt. „Was ich ganz bestimmt nicht brauche, ist Mitleid. Schon gar nicht von dir… “ Pause. „Das mit uns, dieser Sommer mit dir… Ich war mir sicher, dass da was ist zwischen uns.“
„Ist es doch auch.“
„Mehr, meine ich.“
„Was meinst du mit ‚mehr‘?
„Sag du’s mir!“
„Was soll ich denn jetzt sagen, was erwartest du?“
„Wenn du das nicht weißt… “ Sie verschränkt die Arme vor ihrem Körper.
„Hör zu.“ Zögernd strecke ich die Hand aus. Sie ignoriert sie. „Natürlich habe ich das gespürt.“
„Gespürt? Was hast du gespürt?“
„Als du heute zu mir in den Wagen gestiegen bist, warst du anders als sonst. Deine Unschuld… “
„Unschuld? Was redest du denn da?“
„Nein, warte, nicht die Unschuld. Lass mich erklären. Die Leichtigkeit dieses Sommers, unsere, ja, unsere Unschuld – sie war dahin, das habe ich so empfunden. Und du… du warst mir plötzlich fremd.“
„Fremd?“ Sie atmet wieder schneller.
„Naja, nicht direkt fremd. Das Lässige, das Unbekümmerte, die – ich bleibe dabei – Unschuld, irgendwie habe ich das Vertraute zwischen uns nicht mehr gespürt. Schon als du eingestiegen bist. Deine Umarmung, sie war anders, nicht mehr…
“ … so unschuldig?“ Ihr Gesicht nimmt einen spöttischen Zug an. Dann wird sie nachdenklich. „Vielleicht wollte ich einfach zu viel. Weil ich dachte… Ja, ich wollte dich festhalten. Fester als… Vielleicht… “ Ihre Anspannung löst sich, sie sieht mit einem traurigem Blick an mir vorbei, wirkt plötzlich einsam, einsam mit mir… „Vielleicht wollte ich auch nur den Menschen festhalten, den ich glaubte in dir zu sehen, den ich dachte zu… “ Sie seufzt. „Jetzt bin ich mir jedenfalls nicht mehr sicher.“
„So schnell?“ Meine eigenen Worte kommen mir plötzlich kalt vor. Ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Wo soll denn… “ Sie sieht mir jetzt fest in die Augen. „Wo soll denn… Zuneigung hin, wenn nicht zu dem Menschen, der sie erwidert? Aber wenn du es nicht tust… “ Ihr Blick verschwindet wieder in der Ferne.
„Aber das tu ich doch… Wir können doch… “ Ich breche den Satz ab. Nein, so dumm bin ich nicht. Dass Frauen und Männer nicht einfach Freunde sein können, habe ich ja erlebt. Wie abwesend trinke ich auch noch Barbaras Glas leer. Wie schön sie ist! Und wie armselig ich. Bin ich unfähig zu lieben? Ich habe mich das oft gefragt in diesem Sommer. Vielleicht gab es diesen Punkt einmal zwischen Barbara und mir – damals, als ich meine erste große Liebe noch nicht kannte. Doch heute…

„Pass auf dich auf, ja?“ Sie ist im Begriff aufzustehen.
„Was hast du jetzt vor?“ Ich sehe sie verlegen an.
„Jetzt?“ Sie setzt sich wieder hin. „Jetzt werde ich nach Hause gehen. Nein, bitte, fahr mich nicht. Ich brauche Luft, viel frische Luft. Und ich muss nachdenken, meine Gefühle sortieren. Morgen werde ich wieder nach Köln fahren.“
„Morgen schon?“
Sie blickt mich nachdenklich an.
„Spürst du es auch?“
„Was meinst du?“ Ich halte mich unwillkürlich an der Tischkante fest.
„Der Sommer – er ist jetzt wirklich vorbei!“
Zwei Herzen, zwei verwandte Seelen. Sie denkt wie ich. Bis vor kurzem glaubte ich noch, sie fühle auch wie ich. Tut sie vielleicht auch, nur stärker. Ist es Liebe? Dieses Wort… In Momenten voller Selbsthass habe ich nach der Trennung meinen digitalen Taschenrechner genommen, die Zahl 38317 eingetippt und das Gerät auf den Kopf gestellt. Haha, wie lustig… Am Ende sind es bloße Zahlen, seelenlose Buchstaben. Werde ich je wieder empfinden, was der Wortsinn mir – mir ganz persönlich – einmal bedeutet hat?

Als wir ein letztes Mal gemeinsam zur Tür hinausgehen, weht uns kühle Herbstluft entgegen. Es dämmert. Barbara zieht den Kragen ihrer Jacke hoch, blickt mich ausdruckslos an, dann wendet sie sich ab und geht davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich sehe ihr nach, warte vor der Kneipe, bis sie drüben hinter der Häuserzeile verschwindet. Aus meinem Blickfeld. Aus meinem Leben.

©Martin Bensen