Liebe und Vergessen

Sie liebte ihn seit langem. Heimlich. Ohne sein Wissen. Lange Zeit hatte es nicht sein dürfen. Der Mann war verheiratet und außerdem war sie seine Haushälterin. Gewiss, sie fühlte sich gemocht, von ihm mehr als von seiner Frau, die immer ein bisschen eifersüchtig schien. Jedenfalls meinte sie das zu spüren. Vielleicht ahnte er etwas von den Gefühlen seiner Bediensteten, die gleichwohl alles tat, sie zu verbergen. Und vielleicht war der eine oder andere warme Blick, der sie dahinschmelzen ließ, nicht mehr als zwischenmenschliche Sympathie und Dankbarkeit. Beide Eheleute zusammen gaben sich jedenfalls unnahbar, schließlich wahrte man in ihren Kreisen eine höfliche Distanz zum Personal. Nicht so der Gärtner, der ihr ein ums andere Mal auflauerte oder wie zufällig da herumlungerte, wo sie gerade zu tun hatte. Sie mochte ihn nicht, er wirkte schmierig, zudem war er fett und so schlug sie seine unbeholfenen Einladungen konsequent aus. Dabei sehnte sie sich so sehr nach einem Mann an ihrer Seite.

Sie war in den besten Jahren, aber sie wirkte jünger als sie tatsächlich war. Und es war auch nicht so, dass ihr die Männer nicht nachstellten. Nur war sie eben wählerisch. Zu viele Enttäuschungen lagen hinter ihr, die wenigen vielversprechenden Beziehungen, auf die sie sich einließ, gingen früher oder später in die Brüche. Genau besehen eher früher. Lange suchte sie die Schuld bei sich, bis ihr eine Psychologin gründlich den Kopf wusch, sie wieder aufbaute – sie am Ende aber auch vernaschen wollte. Da hatte die Gute die Wirkung ihrer Therapie jedoch falsch eingeschätzt. So gemocht sich ihre Patientin auch fühlte, so klar widerstrebte ihr der Sex mit einer anderen Frau. Da blieb sie doch lieber alleine.

An einem frostigen Montagmorgen im November fand sie die Dame des Hauses tot in ihrem Bett vor. Ihr Mann war schon am Wochenende zu einer Geschäftsreise nach Japan aufgebrochen. Die Haushälterin zögerte nicht lange und rief erst die Polizei und dann den Ehemann an, bat auf seiner Mobilbox um dringenden Rückruf. Dann verließ sie das Haus. Weder an diesem, noch an den folgenden Tagen meldete sich der Mann bei ihr. Unzählige Male war sie im Begriff, ihn nochmals anzurufen, doch immer schreckte sie im letzten Moment davor zurück. Es stand ihr nicht zu, bestimmt hatte die Polizei alles weitere veranlasst. Ihre Verunsicherung schlug in Trotz um. Sie beschloss, nicht eher wieder die Villa ihres Arbeitgebers zu betreten, bis dieser sich meldete. Offensichtlich wurde sie ja nicht mehr gebraucht. Dann wiederum wälzte sie sich schlaflos in ihrem Bett, dachte unter Tränen an den armen Mann, der nun Witwer war. Trotz aller Sorgen um ihn: Hatte sie sich das nicht immer gewünscht? Sollte sie ihm nicht beistehen in seiner Trauer? Mit ihm trauern, mit ihm zusammen sein, ihm vielleicht auch näher kommen? Er hatte doch niemanden mehr – so wie sie! Kinder waren dem Ehepaar nicht vergönnt gewesen oder aber die Beiden wollten keine. So wie sie. Aber auch sonst hatten sie in all den Jahren, die sie in ihrem Haus ein- und ausging, nie Besuch von Verwandten, Freunden oder Nachbarn gehabt. So wie sie… Sie waren sich offenbar selbst genug gewesen, lebten trotz ihres Alters von gerade mal fünfzig gänzlich zurückgezogen in ihrem viel zu großen Haus auf diesem beinahe unverschämt weitläufigen Grundstück direkt am Stadtwald. Nicht wie sie.

Das einzige, was sie ihnen neidete, war ihr offensichtliches Eheglück. Wenn sie ehrlich war, neidete sie es nicht ihm, sondern der Dame des Hauses. Und wenn sie noch ehrlicher war, nagte wahre Eifersucht an ihr, ließ sie in besonders einsamen Momenten daheim in ihrer gemütlichen, aber allzu stillen Dreizimmer-Wohnung auf seltsame Gedanken kommen. Von Mordgelüsten konnte zwar keine Rede sein, wohl aber wünschte sie der Dame die Pest oder vergleichbares Ungemach an den Hals, dachte sogar schon an einen wohldosierten Voodoo-Zauber, was aber dem einen oder anderen Wein geschuldet war. Bei Tag und unter dem aufhellenden Einfluss der Vernunft meldete sich ihr Gewissen und sie schämte sich für ihre düsteren Gedanken. Bald wurden daraus echte Schuldgefühle, denn sie bemerkte an vielen Kleinigkeiten, dass sich etwas veränderte. Der Haussegen hing schief, das war neu. Und es sollte zum Dauerzustand werden, zu einer wahren Eiszeit. Der Mann war immer öfter auf Reisen und die Frau kam bald gar nicht mehr aus ihrem Schlafzimmer, solange die Haushälterin da war. Offiziell war sie unpässlich und sie verbat sich dann auch das Reinemachen ihres Zimmers. An anderen Tagen verließ die Frau schon morgens das Haus, um erst spät abends heimzukommen. Ansprache erhielt die treue Haushälterin fortan auf Zetteln, in Form von Anweisungen. Fast immer wurde sie angehalten, doch bitte nichts zu kochen.

Nein, ihren Wohlstand hat sie ihnen nie geneidet, sie selbst wurde auch fürstlich dafür bezahlt, dass sie an nur vier Tagen die Woche für jeweils sechs Stunden für Ordnung, Sauberkeit und – zu besseren Zeiten – auch für gutes Essen sorgte. Sie konnte von ihrem Gehalt gut und sorgenfrei leben. Die Beschäftigung war ein Glücksfall, ein Sechser im Lotto – warum also sollte sie hadern? Weil man Glück nicht kaufen kann. Und schon gar nicht die Liebe. Ihr Herz schrie nach einem Lebenspartner. Nach ihm. So viel Liebe trägt es in sich, so viel Liebe für diesen einen Mann. Genau in dem Moment, als seine Ehe in die Krise schlitterte, musste sie ihre naive Hoffnung wohl begraben, ihn jemals für sich gewinnen zu können. Er war einfach nie da. Aber warum, um alles in der Welt, hatte er sich auch nach dem Tod seiner Frau nie wieder bei ihr gemeldet, bei derjenigen, die jetzt einfach für ihn da wäre? Wie oft hatte sie versucht, ihn zu erreichen, wie oft gingen ihre Anrufe ins Leere? Wie oft stand sie in den Tagen und Wochen nach der Beisetzung, zu der sie nicht geladen und folglich auch nicht gekommen war, vor dem schweren, schmiedeeisernen Tor, wie oft hatte sie den Schlüssel im Schloss, um ihn dann doch nicht herumzudrehen? Weil ihr aber auffiel, dass zu keiner Abend- und Nachtzeit – ja, sie kam sogar nachts – irgendwo im Haus Licht brannte, wurde sie jedesmal mutlos und ging bald wieder unverrichteter Dinge.

Um ihr Auskommen machte sie sich noch keine Sorgen, sie hatte etwas gespart und würde damit gut und gerne ein halbes Jahr über die Runden kommen. Aber sie fragte sich schon, warum der Witwer nicht einmal nach ihr fragte, jetzt wo er mutterseelenallein war. Er hatte sie doch geschätzt, ja gemocht, das glaubte sie wenigstens – oder war das nur ein großer Irrtum, eine Selbstüberschätzung ihrerseits, eine Verirrung aus blinder Liebe? Sie liebte ihn, das wusste sie tief in ihrem Herzen, sonst wusste sie nichts mehr. Vor lauter erzwungener Untätigkeit wusste sie auch nichts mit sich anzufangen. Doch dann kam ihr eine Idee. Sie kaufte einen hübschen Strauß Herbstblumen und marschierte geradewegs zum Bezirksfriedhof. Lange brauchte sie nicht, um das Grab der Frau zu finden. Es machte schon jetzt einen verwahrlosten Eindruck, offensichtlich hatte sich nach der Beisetzung niemand mehr darum gekümmert. Wo war denn der Gärtner, wenn man ihn mal brauchte? Brauchte man ihn womöglich gar nicht mehr? So wie sie? Mit wenigen Handgriffen entfernte sie die welken und von Laub bedeckten Blumengebinde, holte eine der grünen Kunststoffvasen, füllte sie mit Wasser und stellte sie mitsamt dem frischen Blumenstrauß mitten auf die Grabstelle. Es war milder geworden, vielleicht würde der Strauß ein paar Tage frisch bleiben. Eilig verließ sie den Friedhof, ohne große Hoffnung, dass der Mann ans Grab kommen würde, die Blumen sehen und endlich an sie denken würde…

Sechs Wochen nach dem Tod der Hausherrin lag zwischen der üblichen Werbung ein formell wirkender Brief in der Post. Absender war ein Notar. Kaum zurück in ihrer Wohnung öffnete sie den Umschlag, wie sie es immer tat, sauber mit dem Gemüsemesser. Sie hatte kein gutes Gefühl und es sollte sie nicht trügen. Der Brief war in reinstem Juristendeutsch abgefasst und wenn sie alles richtig verstand, würde ihr der Witwer das Gehalt für Dezember und das ganze nächste Jahr zahlen. Als Haushälterin zurückhaben wollte er sie aber offenkundig nicht. Einen anderen Schluss konnte sie aus dem Schreiben nicht ziehen. Sie las den Brief wieder und wieder. Dann verschwammen die Zeilen vor ihren Augen, immer wieder überkamen sie Weinkrämpfe und als sie spätabends in ihrem Bett lag, kam keine Träne mehr. Und kein Schlaf.

Als sie am nächsten Morgen zur Tür hinaustrat, war alles weiß. Kinder schrien vor Freude, während sie sich mit Schneebällen bewarfen und sie nur bitter lächeln konnte über die Tatsache, dass über Nacht, in der sie nur noch trocken schluchzen konnte, vom Himmel keine Tropfen, sondern Eiskristalle gefallen waren. Die Frau zog sich ihre Mütze tief in die Stirn und stapfte durch den Schnee. Eine Stunde später stand sie abermals vor dem Anwesen ihrer ehemaligen Arbeitgeber – es sollte das letzte Mal sein. Die hohen Eiben hatten sch unter der Schneelast tief nach unten gebogen und so sah sie erst, als sie sich schon zum Gehen wenden wollte das Schild weiter hinten. Es steckte schief im Schnee und bedeutete das Ende all ihrer Hoffnungen: Zu verkaufen! 

Die Jahre vergingen, die Falten kamen. Wie Jahresringe erschienen sie, eine nach der anderen, zuverlässig wie die Abreißkalender, die sie wegen der Sinnsprüche immer schon im November im Schreibwarengeschäft in der Innenstadt kaufte. In all den Jahren hielt sie sich aufrecht, dabei wusste sie eigentlich gar nicht, wofür. Es lag nur nicht in ihrem Wesen, sich gehen zu lassen. So einfach war das. Und so ging sie jeden Tag gut gekleidet und makellos geschminkt aus dem Haus. Das Haus, in dem sie nach der langen Zeit als Haushälterin und einem nutzlosen wie langweiligen halben Jahr arbeitete, verlangte eine gepflegte Erscheinung. So bestand schon gar keine Möglichkeit zu verwahrlosen – im Gegenteil: Der Job als leitende Verkäuferin in einem Schmuckgeschäft gefiel ihr über alle Maßen. Anders als sie erwartet hatte, schöpfte sie neuen Lebensmut – für manche Kunden auch verstörend, freute sie sich mit ihnen über ihre erworbenen Schätze. Wie sehr wärmte es ihr das Herz, wenn ein noch junges Paar nach Ringen fragte, so glücklich, so innig verbunden und voller froher Erwartung. Das Leuchten in ihren Augen war ihr beinahe mehr Lohn als alles Geld, das sie bekam und ihr auch jetzt einen hohen Lebensstandard ermöglichte.

Und so erkannte sie ihn zunächst gar nicht, als er an einem heißen Sommertag in den Laden trat. Der grauhaarige Mann wirkte schüchtern, fast scheu. Außerdem steckte seine dürre Gestalt trotz der sommerlichen Hitze in einem viel zu großen, etwas in die Jahre gekommenen, hellbraunen Trenchcoat. Darin wirkte der Fremde wie ein Penner. Sie kam hinter der Vitrine hervor, schritt energisch auf ihn zu und wollte ihn schon mit strenger Miene abwimmeln, als sie seine Augen sah. Vor ihr stand – er! Der Mann, den sie liebte. Konnte das sein? Und lächelte er sie etwa an? Weiße Zähne blitzten auf, er schien auch sie zu erkennen. Oder doch nicht? Bei genauem Hinsehen wirkte er gar nicht ungepflegt. Er duftete sogar nach teurem Aftershave – sie erkannte es wieder. Ganz ohne Zweifel: Vor ihr stand ihr ehemaliger Arbeitgeber, der Mann, den sie geliebt hatte. Den sie immer noch liebte…

Mit verschmitztem Lächeln holte er einen Ring aus der rechten Manteltasche und hielt ihn ihr hin. Sie wich überrascht zurück und bat ihn noch in der Bewegung an den gläsernen Verkaufstisch. Der Mann lächelte immer noch, trat an die Theke heran und legte den Ring auf die Samtunterlage. Er brauche ihn nicht mehr und wolle ihn… er rang nach Worten. Verkaufen? Versilbern? Zu Geld machen? Der Mann nickte stumm und blickte verlegen nach unten. Nach kurzem Zögern nahm die Frau den Ring zwischen ihre Finger. Sie musste nicht einmal genau hinsehen, um zu ahnen, dass sie den Ehering seiner Frau, ihrer ehemaligen Chefin, in Händen hielt. Die Gravur auf der Innenseite bestätigte ihre Annahme. Nervös legte sie den Ring wieder ab, bemerkte dabei, dass er seinen immer noch trug – das gleiche Modell, wie konnte es auch anders sein. Die beiden Ringe waren einst mit Geschmack ausgesucht worden, das sah sie, sie wirkten schlicht und waren doch sehr fein gearbeitet. Leider war Schmuck dieser Art unverkäuflich, der Ring aus Platin und Gold würde eingeschmolzen werden und war somit allenfalls das Material wert. Warum wollte dieser Mann ihn verkaufen? Hatte er sein Geld verloren, sich verschuldet? Was war mit ihm passiert? Die Frau sah ihn unsicher an. Er blickte ihr geradewegs in die Augen. Wie viel er denn wohl noch dafür bekomme, wollte der Mann wissen. Sie wurde unruhig, wollte ihn jetzt nicht enttäuschen, nein, sie wollte noch mehr, sie wollte ihn für sich gewinnen. Er war gekommen, jetzt wollte sie ihn nicht wieder gehen lassen. Nicht einfach so…

Es war ganz einfach. Sie würde ihm Geld aus eigener Tasche dazugeben. Das war sie ihm schuldig. Er war immer großzügig gewesen. Wenn auch nur mit Geld und nicht mit seinen Gefühlen für sie. Noch immer sah sie der Mann fragend an, sie gewann ihre Sicherheit zurück, brachte sogar ihr Verkäuferinnenlächeln zustande. Mit sanfter Stimme fragte sie, was er sich denn vorgestellt habe. Der Mann überlegte, dann lachte er laut. Wenn es für einen Kaffee und ein Stück Kuchen für sie und ihn in einem schönen Café reichte, wäre er am Ziel seiner Träume. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Er hatte sie also nicht erkannt, soviel stand fest. Dieser Mann, der einmal ihr Chef war, machte sie hier und jetzt ganz unverhohlen an – wie eine Fremde. Aber immerhin: Er fand sie offenbar attraktiv. Das hätte sie einst nicht zu träumen gewagt. Für sie war es nun gar keine Frage, dass sie sich auf sein Spiel einlassen würde. Jetzt oder nie!

Gleich um die Ecke sei ein schönes Café, sein Lieblingscafé. Hatte er immer schon dieses zauberhafte Lächeln? Das reine, fast kindliche Lächeln eines herzensguten Menschen. Ihr wurde ganz warm ums Herz. Ganz tief in ihr verborgen hatte sie nie aufgehört, ihn zu lieben, das wurde ihr jetzt klar. Wann sie denn Feierabend habe, wollte er wissen. Sie reichte ihm den Ring, den er verdattert nahm, und ging an ihm vorbei zur Tür. Worauf er denn noch wartete, fragte sie und öffnete die Ladentür. Mit erstauntem Blick steckte der Mann den Ring in den Mantel zurück und folgte ihr nach draußen. In ihre etwas zu frühe Mittagspause. Natürlich kannte sie das Café, ihr gefiel es auch, wenngleich sie oft nicht die Zeit und die Geduld für eine ausgiebige Mahlzeit hatte, sich deshalb meistens was auf die Hand mitnahm und lieber eine Runde um den Block drehte. Der Mann steuerte auf einen Tisch in der hintersten Nische zu. Ideal für Liebespaare, dachte die Frau und folgte ihm mit amüsiertem Blick.

Seine Manieren hatte er behalten, nahm sie wohlwollend zur Kenntnis, als er ihr höflich die Bank an der Wand zuwies und sich ihr gegenüber erst setzte, als sie Platz genommen hatte. Er orderte zwei Tassen Kaffee und zwei Stück Torte, ohne sie zu fragen. Sie nahm es hin. Er musste ja nicht wissen, dass sie genau dasselbe bestellt hätte. Während sie aßen und tranken, sprachen sie kein Wort, immer wieder trafen sich ihre Blicke. Wie schön seine Augen waren. Was er wohl dachte? Fand er sie schön? Wieso erkannte er sie dennoch nicht, hatte sie sich so sehr verändert? Endlich fasste sie sich ein Herz. Er dürfe den Ring auf keinen Fall verkaufen. Der Mann lächelte. Welchen Ring, wollte er wissen. Sie sah ihn verwundert an. Den Ring, den er ihr vorhin im Laden gezeigt habe, der in seiner rechten Manteltasche. Er sah sie verdutzt an, stand mit einem Ruck auf und griff mit beiden Händen in die Außentaschen seines Mantels, der neben der Nische hing. Da sei kein Ring. Achselzuckend setzte er sich wieder hin. Die Frau war irritiert. Aber sie beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen. Was war nur los mit ihm? War er krank? Oder spielte er ein perfides Spiel mit ihr? Dann überraschte er sie ein weiteres Mal.

Sie solle das einfach vergessen. In letzter Zeit sei er nicht so ganz… Der Mann rang wieder nach Worten, griff dann unversehens nach ihrer Hand. Beinahe hätte sie sie überrascht zurückgezogen. Nein, er sollte sie ruhig berühren, so lange hatte sie sich jede noch so kleine Geste, jede noch so zufällige Berührung seinerseits gewünscht. Jetzt glaubte sie zu träumen, wollte sich gerade mit ihrer anderen Hand kneifen, da beugte er sich zu ihr vor. So nah war sein Gesicht vor ihrem, dass sie glaubte, er wolle sie küssen. Doch er begann zu sprechen, ganz leise, ganz vertraut. Irgendwann musste er ja bei ihr vorbeikommen, sie endlich ansprechen, nach der ganzen Zeit. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie traute ihren Ohren nicht. Er hatte sie erkannt. Endlich! Und nicht nur das. Er schien sich endlich auch für sie zu interessieren. Was konnten seine Worte denn anderes bedeuten, was der Glanz in seinen Augen? So zärtlich sahen sie sie an, dass sie nicht mehr an sich halten konnte. Ihre Lippen berührten seine. Der magische Augenblick. Jetzt war er da!

Ein Schatten fiel über ihre Gesichter. Überrascht sahen sie auf. An ihrem Tisch standen zwei Männer. Aufkeimende Entrüstung wich einem jähen Erkennen, es war, als erwachte sie aus einem Traum. Doch sie erwachte nicht, sie hatte auch nicht geträumt. Da sei er ja, der alte Schwerenöter, so langsam werde das aber anstrengend mit seinen Eskapaden. Nichts für ungut, gute Frau, aber dieser Mann müsse jetzt zurück in ihre Obhut, in seine gewohnte Umgebung. Sie verstand erst einmal nichts, doch als ihr Gegenüber mit stumpfer Miene aufstand und ohne einen Blick zurück mit ihnen ging, wurde ihr klar, was hier gerade passiert war. Die weiße Kleidung der Männer, die Art, wie sie ihn begleiteten, die seltsame Episode mit dem Ring. Dieser Mann hatte nicht nur sie vergessen. Als die Tür des Cafés zufiel, blieb die Zeit stehen, vollkommene Stille hüllte die Nische ein, in der die Frau erstarrt sitzenblieb. Ihr Blick fiel auf den Mantel. Wie die abgelegte Haut eines Fremden hing er dort.

©Martin Bensen