Alltagssplitter: Sie isst Hähnchen

Warum habe ich eigentlich geglaubt, dass eine so schöne junge Frau, die soeben telefonisch einen Termin zum Spitzenschneiden ausmacht und die so schlank und sportlich wirkt – dass diese junge Frau sich nur an der Salatbar des Grillrestaurants bedient und vielleicht ein Glas Prosecco oder, weil sie allein dort sitzt, doch eher ein Glas stilles Wasser bestellt – stille Wasser sind tief, sagt man, aber wer ist man? Diese junge, schlanke, schöne Frau leckt sich die Lippen beim Blick in die Speisekarte, tippt dann nervös auf ihrem Smartphone herum, bis sie endlich erlöst wird von der dicken Kellnerin – man kennt sich, sie kennen sich -, die sie duzt und verständnisvoll nickt. Und noch ehe sich diese schöne junge Frau wieder ihrem Smartphone widmet und immer noch nicht zur Salatbar geht, bekomme ich mein zweites Wasser und sie ein großes Glas Cola, an dem sie nur kurz nippt, weil sie wohl keinen großen Durst, sondern vor allem Hunger hat. Sie leckt sich wieder ihre Lippen, schaut mit sehnsüchtigem Blick Richtung Theke, dann auf mich und meinen Teller, auf dem nurmehr ein Schlachtfeld von Gebeinen und einem Gerippe liegt, und während ich am letzten Knochen nage, den sie mir wohl gerade neidet, wird sie endlich doch erlöst. Wie in Zeitlupe sehe ich die Kellnerin auf ihren Tisch zu schreiten, sehe ich die junge Schöne mit feuchten Lippen und glänzenden Augen auf den dampfenden Teller starren, der wohl auch in ihren Augen quälend langsam sich ihr nähert und endlich glücklich vor ihr steht, mit einem heißen, krossen halben Hahn und goldgelb frittierten Pommes – so wie meiner noch vorhin. Hastig greift sie nach dem Besteck, reißt die Serviette weg und noch ehe sie auf das Hähnchen einstechen und einsäbeln will, sagt sie fast entschuldigend, sie habe jetzt wirklich großen Hunger. Leider verdeckt die dicke Kellnerin, die sich lächelnd wieder Richtung Theke wendet, den Blick auf den ersten Bissen, den die junge Schöne sicher gierig aus dem knusprigen Korpus schneidet, so sehe ich sie nur noch selig kauen, die Augen vor Genuss geschlossen. So schön, fast anmutig isst diese Frau ihr Hähnchen, sie schlingt es nicht, wie ich, sie genießt es vielmehr, so wie eigentlich jeder Mensch, der ein solches Mahl zu schätzen weiß. Wie also konnte ich nur denken, dass Frauen wie sie so etwas nicht tun?

©Martin Bensen