Etwas benommen von der langen Fahrt bleibe ich noch im Auto sitzen. Auf meinem Smartphone häufen sich die Nachrichten, ich schalte das Gerät aus und lege es ins Handschuhfach, wo es die nächsten Tage bleiben wird. Inzwischen vermissen sie mich zuhause, ihren treu sorgenden Vater und Ehemann, sind wie immer spät aufgestanden und haben sich bestimmt gewundert, dass kein Frühstück auf dem Tisch steht, um wenig später zu bemerken, dass mein Bett leer und mein Auto weg ist. Ich musste weg, das spüre ich noch immer so deutlich wie die Tage zuvor, als sich der Gedanke langsam und mächtig in mir festsetzte. Raus aus dem Alltag, wo ich selbst im Urlaub nur noch funktioniere, mich selber aber nicht mehr mag, weil ich der, der ich bin, nicht mehr sein möchte. Wenigstens mal für ein paar Tage…
Ich sitze also in meinem Auto, habe es auf den kleinen Parkplatz gestellt, vor mir das handgemalte Schild der Gastgeberin, bei der ich die nächsten Tage wohnen werde. Der Schriftzug ist derselbe wie im Internet, wo er mir unter hunderten von Angeboten zum Starnberger See auffiel.
Komm und bleibe hier
Bleib und komm zu Dir
Der Zweizeiler hat mich sofort angesprochen, darüber der Name: Marina. Eigentlich wollte ich ans Meer, habe mich im letzten Moment umentschieden und bin nach Südosten gefahren, nach Bayern, und dennoch ans Wasser. Die nächsten Tage sollten gerade hier wirklich schön werden, Sonne pur, über 20 Grad, ein furioser Oktoberausklang. So liebe ich den Herbst, mit leichtem Dunst, der sich mittags in der immer noch kräftigen Sonne langsam auflöst, um am Abend zurück zu kommen, sich wieder über die Felder zu legen, als Herbstnebel, der nun endlich sein Recht einfordert. Wie muss das Schauspiel erst am See sein? Ich habe mir fest vorgenommen, ihn von morgens bis abends auf mich wirken zu lassen. Wasser zieht mich an, wie gern sitze ich am Ufer, lasse die friedliche Stimmung auf mich wirken und – man möge mir die abgegriffene Metapher verzeihen – die Seele baumeln. Es führt eine traumhafte Strecke rund um den Starnberger See, wie gemacht für eine gemütliche Tagesreise mit dem Rad – meines liegt hinten im Wagen.
Ein Geräusch weckt mich aus meinen Träumereien, die Gastgeberin ist da, macht sich an der kleinen Gartentür schräg vor mir zu schaffen. Sie hat mich auf der Fahrt angerufen und gefragt, ob ich pünktlich komme. Um drei wolle sie zum Einchecken kommen, habe aber noch einen Termin um vier, wolle sich dennoch genügend Zeit nehmen, das tue sie immer für ihre Gäste, denn es gebe einiges zu erklären. Sie schaut zu mir rüber, winkt mir freundlich zu, bedeutet mir, ihr zu folgen. Erst beim Aussteigen bemerke ich, dass sie einen Hund an der Leine hält, einen flauschigen kleinen Kerl, nein eine Dame, wie sie mir nachher erklären wird, stolze 13 Jahre alt, eine Tibeterin. Nachdem sie das Gartentor aufgeschlossen hat, leint sie die Hündin los, die ohne Hast auf das Haus zusteuert. Bitte machen Sie das Gartentürchen richtig zu. Wegen dem Hund!, ruft mir die Frau zu, während sie schon die Haustür öffnet. Meine Sachen habe ich noch im Auto gelassen, ich schließe das Türchen und gehe langsam auf das für die Gegend typische Landhaus zu – nicht ohne wahrzunehmen, wie gepflegt der Garten ist. Hier gibt es viel zu entdecken, überall stehen Bänke mit Kissen, Liegestühle auf Podesten und auf einer großzügigen Holzveranda, hier und da glitzern Gläser mit Kerzen und Deko-Schmuck in der Sonne, ein Duft von Kräutern liegt in der Luft, neben allerlei Blumen, teils in fantasievollen Gefäßen, wachsen Rosmarin, Lavendel, Minze, Salbei und zahlreiche andere, die ich Städter gar nicht kenne.
Wie lang können dreißig Meter sein? Meine Gastgeberin erwartet mich schon etwas ungeduldig unter dem Vordach einer gemütlichen Sitzecke mit Lounge-Möbeln. Wie sie da steht, komme ich mir plötzlich nicht wie in Bayern vor, sondern viel weiter südlich. Ich schaue sie mir nun ganz bewusst an, sie ist groß, attraktiv, schätzungsweise Anfang vierzig, von schlanker, ebenmäßiger Statur, welche ihr eng anliegendes, etwa knielanges helles Sommerkleid (sie muss ja noch weg, fällt mir wieder ein, wohin wohl?) zusätzlich betont, ebenso wie ihre gesund gebräunte Hautfarbe. Sie steht aufrecht, stolz, ihr Gesicht wirkt südländisch, schmale Nase, markanter Mund. Ihre schwarzen, leicht bräunlich glänzenden Haare hat sie nach hinten gebunden. Die dunklen Augen verströmen Wärme, eigentlich sogar etwas Traurig-Melancholisches. Dieser Frau ist etwas Schlimmes passiert, das spüre ich in diesem Moment. Sie lässt mir diesen Augenblick des Ankommens, wenn auch mit einer leichten Unruhe, so scheint es mir, und bittet mich, Platz zu nehmen. Nein, nicht auf dem Lounge-Sofa, lieber an dem Tisch dort, denn es müssten noch Formalitäten erledigt werden. Wobei – so viel nun auch nicht, Geburtsdatum und Unterschrift reichten, alles andere hätte ich ja schon online übermittelt, sogar das Geld sei schon da. Ob ich was trinken möchte, fragt sie, während sie mir das Formular reicht. Kaffee, Tee, Wasser, das Wasser sei gut, es sei lebendiges Wasser, nicht das tote, das wir als Mineralwasser oder sogar chloriert aus der Leitung trinken, dies hier sei Wasser mit besonders starker innerer Ordnung, das beziehe sie von einem weisen Mann aus dem Nachbarort, es stehe auch in meinem Zimmer bereit. Einen Moment später bringt sie ein weißes Tablett mit diesem Wunderwasser sowie zwei Glasschälchen mit Mandeln und Feigen und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich merke jetzt, wie durstig ich bin, leere das Glas in einem Zug. Sie schenkt mir nach, lächelt in sich hinein, steht plötzlich auf und nimmt mir das unterschriebene Formular ab.
Dann kommen Sie mal, sagt sie aufmunternd, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Dass sie das Badezimmer mit anderen teilen müssen, haben sie ja gelesen, aber das Ehepaar reist morgen ab, dann haben sie das ganze Bad für sich, dann sind sie für den Rest der Woche überhaupt mein einziger Gast. Jetzt im Herbst ist hier nicht mehr viel los, dabei ist das Wetter ja gerade wie im Sommer. Meine Vermieterin ist schon leichtfüßig hineingeschlüpft. Als ich das kleine Haus betrete, empfängt mich ein vertrauter Duft meiner Kindheit. Es riecht irgendwie „sakral“, wie in den nicht enden wollenden, weihrauchdurchwirkten Messen und Hochämtern, die ich als Kind in einer katholischen Gemeinde buchstäblich bis zur Ohnmacht aushalten musste. Doch zum Glück hält sich der Geruch hier sehr dezent im Hintergrund. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die dunklere Lichtstimmung gewöhnt haben. Überall stehen sie wieder, die kleinen und großen Gläser, hier drinnen mit brennenden Kerzen, Töpfe mit Orchideen und anderen Pflanzen, exotische Figuren aus Stein und Holz. Auf einem alten Bierfass mit einer schweren Holzplatte liegen Prospekte, ein aufgeschlagenes Gästebuch, eine Schale mit Nüssen und ein großer Buddha aus weißem Porzellan. An den Wänden hängen geschmackvolle Bilder und Skulpturen aus altem, ausgelaugtem Holz, das mir wie Strandgut vorkommt, gibt es so etwas am Starnberger See? Ganz leise höre ich Musik, irgendetwas Sphärisches, Meditatives, der Rhythmus kommt nun allerdings nicht aus den versteckten Lautsprechern, sondern von der Treppe, die meine Gastgeberin gerade geschmeidig hochsteigt. Ihre Vans sind weiß und passen zu ihrem leichten Sommerkleid, das mit jeder ihrer Bewegungen leise raschelt.
Ich folge ihr die Treppe hoch, zu einer weiteren, sehr viel helleren Diele mit sechs Türen. Eine steht offen, ich erkenne eine große halbrunde, in eine Zimmerecke gebaute Badewanne. Sie ist abgedeckt und auch auf der dunklen Holzscheibe finden sich Gläser, Kräuterschalen, eine weiße Orchidee, Hölzer und ein kleiner blauer Buddha. Auch hier duftet alles nach Kräutern. Das hier ist Ihr Zimmer, es hat auch einen Balkon, wenn Sie nach rechts schauen, blicken Sie auf ein kleines Stück vom See. Aber Sie müssen an den See gehen, nicht hier drinnen hocken. Ich brauche den See, jede freie Minute bin ich dort unten, da brauche ich nichts anderes mehr, dann geht es mir einfach gut… Das Zimmer ist schön, viele kleine Blickfänge, liebevoll drapiert, eine Karaffe mit Minzeblättern und Wasser, dem Wasser, und ein Bett, das in einem Puppenhaus stehen könnte, so niedlich sieht es aus. Der Gedanke ist kaum in meinem Kopf, da räuspert sich meine Gastgeberin. Das ist dann wohl zu klein für Sie, sagt sie mit einem Schmunzeln, das in ein herzliches Lachen übergeht. Kommen Sie, ich gebe Ihnen die Dachkammer, da steht ein Doppelbett, in das passen Sie ganz sicher rein. Lacht noch einmal laut und öffnet eine schmale Tür, hinter der eine enge Treppe in Form eines Hufeisens nach oben führt. Schon ist Marina – heißt sie eigentlich wirklich so? – verschwunden, ich muss aufpassen, nicht mit meinem Kopf an die schräge Wand zu knallen, an Leibesfülle sollte ich auch nicht wesentlich zulegen. Oben angekommen steht sie vor einem sonnendurchfluteten Raum, in dem vier längliche Matten ausgebreitet nebeneinander liegen, alle mit Kissen, darüber eine baumwollfarbene Hängematte, die perfekt zwischen die Dachbalken passt. Das ist unverkennbar der Yoga-Raum, doch sie verliert kein Wort darüber, sondern öffnet die Tür nebenan.
Das Zimmer muss erst vor kurzem renoviert worden sein, es wirkt frisch und hell, ist einfach und zweckmäßig möbliert. Ein ausreichend großes Doppelbett ohne Rahmen steht in einer gemütlichen Nische vor einer komplett den Giebel einnehmenden Fensterfront mit Tür zu einem schmalen Balkon. Ein warmer Hauch Landluft weht durch die geöffneten Fenster, um sich gleich mit dem Kräuterduft zu mischen, der auch dieses Zimmer unaufdringlich bereichert. Meine Gastgeberin sieht, dass ich mit meiner Unterkunft zufrieden bin. Wenn ich gewusst hätte, sagt sie mit einem Lächeln, dass ein derart stattlicher Mann kommt, hätte ich Ihnen gleich die Dachkammer angeboten. Zum Glück ist sie ja frei und sie ist auch noch günstiger, das werde ich gleich mal mit dem Onlineportal abklären, dann kriegen sie von denen noch Geld zurück. Erstaunlich, wo ich dieses Zimmer sogar größer und für mich allemal besser finde. Ich bedanke mich und sie verabschiedet sich, nicht ohne mit mir noch ein paar Einzelheiten zum Frühstück, zu den Schlüsseln und zur Badbenutzung zu besprechen. Dann ist sie weg und ich offenbar ganz allein in diesem gastfreundlichen Haus. Schnell hole ich meine Sachen aus dem Auto, richte mich ein und verlasse wenig später Haus und Garten, um mit meinem Rad wenigstens noch ein kleines Stück des nahegelegenen Sees zu erkunden.
Sie hat nicht zu viel versprochen: Nach wenigen hundert Metern durch den Wald breitet sich das herrliche Panorama des Starnberger Sees vor mir aus, die Sonne steht bereits tief, bringt einen großen Teil der Wasseroberfläche zum Glitzern. Ich fahre den Weg nach Osten weiter, von Westen war ich ja gekommen, hatte mich vor meiner Ankunft noch eine Weile im Nachbarort aufgehalten, weil ich am Ende doch zu früh dran war. Herbstlaub bedeckt den schmalen Pfad, einige Fußgänger und Radfahrer begegnen mir, sie scheinen es alle eilig zu haben, keinen Blick für das Schöne um sie herum. Nun, sie sind hier zuhause, denke ich, haben sich wohl schon sattgesehen oder ganz einfach nur ihren Alltag im Kopf. Die schon tiefstehende Sonne bringt die gelben und roten Blätter zum Leuchten und zwischen den Bäumen glitzert immer wieder der See hindurch, die Luft ist angenehm warm. Der Weg macht jetzt eine scharfe Kurve nach rechts, dann sehe ich einen Parkplatz voller Autos, weiter hinten einen Fahrradständer, in dem kein Platz mehr ist. Ich stelle mein Rad an einen Zaun, schließe es ab und wende mich Richtung Seeufer. Linker Hand befindet sich ein Vereinshaus, ein langer Steg ragt in den See hinaus. Nach rechts führt eine kleine Brücke über einen Bachzulauf, da muss es zur „Fischerhütte“ gehen, von der mir meine Gastgeberin kurz erzählt hatte. Es sei eine Art Skihütte, nur eben nicht in den Bergen, sondern am See, mit einem tollen Restaurant, das aber leider heute und morgen geschlossen habe, am Kiosk im anderen Teil der Fischerhütte gebe es aber, wie könne es anders sein, eine sehr gute Fischsuppe, außerdem einfache, aber gute Hausmannskost wie Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat. Sie hatte nicht zu viel versprochen, der Ort ist traumhaft. Ich gehe über die Restaurant-Terrasse mit nur vereinzelt besetzten Loungemöbeln hinüber zum Kiosk. Hier ist mehr los, aber es sind noch Plätze an Bierbänken frei. Sogar ein Teil der Liegestühle, die direkt am Ufer auf einem kleinen Sandstrand stehen und jetzt am späten Nachmittag vornehmlich von Familien bevölkert werden, ist nicht belegt. Einige der jungen Frauen und Männer haben Caipi- und Aperol-Sprizz-Gläser in der Hand und genießen augenscheinlich die Sonne, während ihre Kinder vor ihnen im Sand spielen oder sich an den Spielgeräten neben dem Holzhaus austoben. Das beste hier aber ist der Ausblick auf den See, seitlich begrenzt durch einen breiten, zur Fischerhütte hin abknickenden Steg, auf dem ebenfalls Gäste sitzen und die Beine baumeln lassen, hinter ihnen das Panorama der blauen Berge. Jetzt erst nehme ich wahr, dass ich hier und heute einen phänomenalen Sonnenuntergang fast wie am Meer erleben werde. Die Sonne steht nur noch zweifingerbreit über dem schmalen Baumstreifen weit hinten an der westlichen Seeseite. Ich bestelle mir eine Bouillabaise, dazu Pommes frites und ein Bier, finde einen Tisch ganz für mich allein mit Blick auf den See. Herrlich, diesen Bilderbuch-Sonnenuntergang mit allen Sinnen genießen zu können, selbst das Kindergeschrei ist verstummt, alle schauen jetzt gebannt nach Westen, viele zücken ihre Smartphones, die in den nächsten Minuten ganze Serien von Bildern produzieren, unersättlich und doch sattsam bekannt aus den sozialen Netzwerken, die auch heute wieder mit den immer gleichen Motiven geflutet werden. Ich taste reflexartig nach meinem Smartphone, als mir einfällt, dass ich es bewusst im Auto zurückgelassen habe. Gut so, nur ohne habe ich eine Chance abzuschalten.
Während ich zum Wein gewechselt habe, hat der Abendhimmel den See zur Leinwand seiner Farbenspiele gemacht. Von blassblau bis tieforange färbt sich das Wasser, die lebendigen Muster immer wieder variierend, sich langsam abschwächend, bis am Ende das Grau überwiegt und auch die Berge ihr Pastellblau verlieren, bald nur noch schwarze Umrisse erkennen lassen, die sich schließlich immer weniger zwischen Sternenhimmel und dem nun dunklen See abheben. Am Ufer entlang blinken jetzt Lichter, ein auffrischender Wind vertreibt die letzten Gäste, jemand räumt vergessene Flaschen und Gläser von den Tischen. Auch ich verlasse den Ort meines ersten Abends, den ich so sehr genossen habe, wie schon lange keinen mehr. Allein, ganz allein, aber ohne etwas – oder jemanden – zu vermissen.
Als ich nach einer etwas unsicheren Fahrt durch den dunklen Wald glücklich am Gästehaus ankomme, ist das plötzlich wie Heimkommen. Der Garten empfängt mich mit einer friedlichen Stimmung, überall brennen Kerzen in Gläsern, das Haus ist nur noch spärlich beleuchtet. Kaum dass ich die Tür öffne, kommt meine Gastgeberin aus ihrem Wohnbereich, in dem morgens auch das Frühstück serviert wird. Sie merkt mir wohl an, dass ich einen schönen Abend hatte, aber müde bin, denn sie fragt nicht nach, wünscht mir nur noch eine gute Nacht. Oben reicht es gerade noch für eine Katzenwäsche, dann falle ich ins Bett und in einen tiefen Schlaf.
Doch schon im Morgengrauen wache ich auf, viel zu früh, denn ich habe mein Frühstück extra auf den spätesten Zeitpunkt, halb zehn, vereinbart. Noch einmal einzuschlafen gelingt mir nicht mehr, also setze ich mich auf, nehme den Laptop auf meinen Schoß und beginne zu schreiben. Hier werde ich Zeit finden für mein Hobby, Kurzgeschichten und Gedichte, die ich in einem Blog veröffentliche. Wobei „Veröffentlichen“ etwas zu hoch gegriffen ist, noch habe ich nichts dafür getan, dass er die Öffentlichkeit erreicht, nur wenige Freunde wissen davon, schauen aber, wenn überhaupt, nur sporadisch vorbei. Anfangs kam sogar Lob, dann erlahmte das Interesse, denn wochenlang habe ich auch einfach keine Zeit zum Schreiben. So ist mein Blog tatsächlich eher ein lückenhaftes Tagebuch. Nicht für die geheimsten Gedanken und Wünsche, aber doch für Geschichten, die mir aus dem Herzen kommen, manchmal regelrecht aus mir herausfließen und am Ende nur noch wenig mit realen Begebenheiten oder Menschen zu tun haben – meine Phantasie überzeichnet und verfremdet die Wirklichkeit zuverlässig, versöhnt mich mit meinem unbedarften Leben, hilft mir in Krisen, erst recht jetzt. Inzwischen ist die Sonne aufgegangen, ich gehe hinunter ins Bad, das Regal des Ehepaars ist schon leer. Ich nehme mir ein frisches Handtuch aus dem Korb und genieße eine lange warme Dusche. Jetzt, wo ich der einzige Gast bin, fühle ich mich noch mehr zuhause – „dahoam“ kommt mir in den Sinn.
Unten empfängt mich ein sonnendurchflutetes Zimmer mit einer gemütlichen Sitzecke am Fenster. Der Tisch ist reichhaltig gedeckt, es duftet nach Kaffee, aber auch nach Minze und Zitronen. Meine Gastgeberin kommt mit einer Tasse aus der Küche, deutet auf einen Samowar, in dem es Ingwerwasser gibt. Ich freue mich auf mein Frühstück, über die vielen liebevoll angerichteten Details. Während ich mich hungrig über die Köstlichkeiten hermache, hat sich meine Vermieterin zurückgezogen, nach einer Weile schaut sie wieder nach mir, fragt, ob ich noch einen Wunsch hätte. Ich bedanke mich überschwänglich und lobe ihr erstaunliches Maß an Gastfreundschaft, sie lächelt sichtlich geschmeichelt und merkt an, sie sei ja auch vom Fach, habe lange in Hotels gearbeitet, bis…, sie macht eine Pause, bis zu meiner Krise… Ihr Gesicht hat schlagartig einen traurigen Ausdruck bekommen, sie wirkt mit einem Mal verloren, fast zerbrechlich, am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen. Wollen Sie sich vielleicht zu mir setzen?, frage ich und beiße mir im nächsten Moment auf die Zunge. Was erlaube ich mir denn da? Ich kenne sie doch gar nicht und außerdem bin ich ihr Gast. Schon will ich mich entschuldigen, da nimmt sie sich eine Tasse Ingerwasser und setzt sich tatsächlich zu mir an den Tisch. Ist eh egal, es sind ja keine anderen Gäste da und wenn Sie mich so nett fragen… Ich heiße Marina, hast du ja schon gesehen. Ein wohliger Schauer fährt mir über den Rücken, sie blickt mich jetzt ganz offen an, rückt ein wenig näher. Du warst mir gleich vom ersten Augenblick an sympathisch, denn du bist sensibel, das habe ich sofort gespürt. Ich kann die Aura eines Menschen sehen, weißt du, und ich fühle unmittelbar, ob ein Mensch eine gute Seele hat. In meinem früheren Leben war ich Wunderheilerin, davon habe ich offenbar einiges herüberretten können. So weiß ich oft vorher, was passieren wird. Sie macht eine kleine Pause und blickt mich seltsam an. Bist du sicher, dass du meine Geschichte hören willst? Jetzt kannst du noch Nein sagen, den sonnigen Tag genießen, du bist doch schließlich auf Urlaub hier… Ich gebe zu, mir wird ein wenig mulmig. Gleichzeitig zieht mich diese Frau unweigerlich in ihren Bann. Nein, jetzt kann ich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, mich aufs Rad schwingen und meine Tour machen. Alles auf Null – dafür ist es zu spät, merke ich und mir wird heiß, denn da ist, wenngleich nur andeutungsweise, auch ein erotischer Impuls in mir. Gib mir deine Hand, sagt sie und greift im nächsten Moment schon danach. Ich bin elektrisiert, passiert das gerade wirklich? Mein Körper reagiert nun sehr deutlich, sie merkt es und beginnt, mit ihrer anderen Hand meine zaghaft geöffnete zu streicheln, ganz langsam und sanft, immer entlang der Lebenslinie. Doch das beruhigt mich nicht, ganz im Gegenteil. Als nächstes geschieht, was ich nicht für möglich gehalten habe: Ich höre ihre Geschichte, nein ich höre sie nicht – sie kommt einfach zu mir. Aber wie? Ihre Lippen bewegen sich nicht, sie schaut mich nur an, durchdringend, mit großen Augen, tiefschwarz sind sie jetzt, bodenlos, meine Hand wird heiß, vom Arm her beginnt mein ganzer Körper zu glühen, es ist, als ob ein Wüstenwind in mich hinein, durch mich hindurch weht. Mein Mund wird trocken, Wasser, ich brauche Wasser, muss dringend was trinken, doch ich kann mich nicht bewegen. Dann ist es vorbei.
Jetzt weißt du alles von mir… Fassungslos schaue ich sie an. Sie lässt mich los, reicht mir ihre Tasse, denn mein Mund ist immer noch trocken, meine Lippen ganz spröde. Als ob nichts gewesen wäre, steht sie auf und räumt den Tisch ab, geschäftig, professionell. Ich bin erschöpft, schwitze und zittere am ganzen Körper, zugleich ist ein dumpfes Gefühl von Trauer in mir und ganz tief spüre ich Wut. Auf was? Ich weiß es nicht, bin völlig durcheinander. Die Anstrengungen der letzten Monate, die Weinkrämpfe, das Unverständnis, Verzweiflung und Sehnsucht, Hoffnung und zunehmendes Selbstvertrauen, hier und da ein Lächeln, herzliche Menschen, das Gefühl, auf dem richtigen Weg und endlich angekommen zu sein – kommen und bleiben… Was, um Himmels willen, geht mir da gerade durch den Kopf? Langsam begreife ich: Es sind nicht meine, sondern ihre Gedanken, es ist ihre Geschichte, die ich fühle, das, was sie erlebt hat, ist jetzt auch in mir. Ich springe auf, gehe in die Küche, doch da ist sie nicht. Ich suche das ganze Haus nach ihr ab, vergeblich. Was mache ich hier eigentlich, was passiert mit mir? Ich muss hier raus, an die Sonne, vielleicht war ja alles nur ein seltsamer Traum, so überspannt wie mein Leben zurzeit ist. Schnell packe ich meinen Rucksack, verlasse das Haus und ziehe mein Fahrrad aus dem Schuppen. Dann sehe ich den kleinen Zettel, er klebt auf dem Sattel.
Zum Sonnenuntergang an der Fischerhütte (wenn Du noch willst)…
Stunden später steige ich müde vom Rad, mein Hintern schmerzt. Den ganzen Tag bin ich einfach gefahren, immer am See entlang, in Starnberg habe ich den Faden verloren, mich immer weiter ins Hinterland verirrt, bin unnötig Hügel hoch- und runtergefahren, habe schließlich erst hinter dem Buchheim-Museum mühsam und eher zufällig wieder an den See zurückgefunden. Kurz vor dem Nachbardorf meiner Unterkunft bin ich eingekehrt und sitze nun in diesem Biergarten mit Blick auf die ländliche Herbstlandschaft. Doch es ist, als schaute ich nur auf ein Gemälde davon, zu sehr beschäftigen mich noch immer die Ereignisse des Morgens. Fast manisch habe ich mir wieder und wieder eingeredet, alles sei nur Einbildung, ich sei einfach nur überspannt. Aber immer, wenn auch nur ein bisschen Selbstvertrauen aufkeimte, spürte ich sofort wieder das andere Leben in mir, Marinas Leben. Jetzt, beim dritten Radler, bin ich endlich so weit, auch an mich selbst zu denken. Was hat mich noch mal an den See geführt? Weswegen bin ich hierher geflüchtet? Sobald ich ein Bild aus meinem Alltag vor mir sehe, entwischt es mir schon wieder, schiebt sich eines von Marina davor. Ist es das vielleicht? Sind wir in unseren Krisen womöglich seelenverwandt? Machen wir gerade einen ähnlichen Prozess durch, wollen wir beide einfach nur ankommen? Haben wir uns dadurch gefunden, zwei Seelen, die sich brauchen, die im Begriff sind zu verschmelzen? Aber sie weiß ja gar nichts von mir. Oder doch?
Um sechs verlasse ich mit schmerzenden Gliedern und schwerem Kopf den Biergarten, die Sonne wird bald untergehen, bis zur Fischerhütte sind es noch drei Kilometer. Mühsam komme ich voran, sehe zwischen den vorbeiziehenden Bäumen hindurch, wie der See bereits in goldenes Abendlicht getaucht wird und ärgere mich jetzt, nicht früher losgekommen zu sein. Der kühler werdende Fahrtwind tut gut und so komme ich einigermaßen erfrischt auf dem Parkplatz bei der Fischerhütte an. Ich schließe mein Rad ab und gehe mit unsicheren Schritten auf das Holzhaus zu. Links von mir liegt der Steg, ganz vorne steht ein Paar in inniger Umarmung wie ein Schattenriss vor einer Pastellmalerei aus blassblauen, orangefarbenen und zartrosa Töne – wie in dem kitschig-schönen Kinostreifen „La La Land“, in den ich mich verirrt hatte, der mir dann aber wider Erwarten sehr gefallen hat. Aus dem Schatten eines seitlichen Schiffsanlegers löst sich eine weitere Gestalt und hebt die Hand. Kein Zweifel, es ist Marina! Sie bleibt dort stehen, will offenbar, dass ich zu ihr komme. Ich steige auf den Steg und gehe langsam auf sie zu. In der Mitte begegnet mir das Paar, Arm in Arm, grußlos, ganz bei sich. Marina steht weiter hinten als gedacht und obwohl ich ihr näher komme, wird sie nicht deutlicher, bleibt ihr Körper dunkel. Dabei ist vom Gegenlicht nur noch ein schwacher Rest übrig, zu wenig, um mich zu blenden. Hat sie sich ganz eingehüllt? Nur noch wenige Meter, doch sie ist immer noch schwarz. Für einen kurzen Moment glaube ich an eine Illusion, ich strecke meinen Arm aus und erwarte beinahe, ins Leere zu greifen. Doch dann fasst eine warme Hand nach meiner, hält sie fest, zieht mich an ihre Seite. Die Frau neben mir ist tatsächlich ganz verhüllt, aber ich erkenne schwach das Profil ihres Gesichts. Das, meine Seele, ist mein See. Hier hat alles begonnen, hier wird alles enden. Ihre Stimme klingt verändert, so, als komme sie von weit her, wie ein anschwellender Wind, der rasch vorüberrauscht. Ihr Griff wird fester. Willst du mich an meine geheime Stelle begleiten? Da sind wir ganz für uns… Sie zieht mich sanft, aber mit überraschender Energie in Richtung Ufer und hakt sich bei mir unter. Warum wundert es mich kein bisschen, dass unsere Schritte gleich harmonieren, gerade so, als wären wir schon ewig ein Paar? War mir vorhin noch etwas unheimlich zumute, spüre ich jetzt nur noch Vertrauen – und Wärme. Sie ist wie du, du bist wie sie, denke ich. Und noch ein Gedanke greift wohltuend Besitz von mir: Kommen und bleiben. Ja, ich werde bleiben, nie habe ich mich so sehr in Harmonie mit einem Menschen, im Gleichgewicht mit mir selbst gefühlt – das wird mir schlagartig klar, als wir an einer engen Uferstelle stehen bleiben.
Marina hat sich von mir gelöst, steht jetzt still da und schaut auf den See. Wie ein schwarzer Spiegel liegt er vor uns, glatt und ruhig, nicht mal die kleinste Welle schlägt ans Ufer. Erst jetzt wird mir bewusst, dass es vollkommen still ist an diesem Ort, kein Rascheln der herbstlichen Bäume, kein Wind, keine Geräusche von irgendeiner Straße. Ich glaube, ich habe dir nicht zu viel versprochen, einen friedlicheren Platz gibt es nicht auf der Erde. Auch deine Geschichte ist jetzt in mir, wir durchdringen uns mit unseren Leben. Unsere Seelen kommen hier zu sich selbst, machen sich frei von allem, was uns im Leben bedrückt, werden rein wie am ersten Tag. Ja, das ist es, ich fühle genauso – geborgen sein und frei zugleich, jetzt ist alles möglich. Alles und nichts. Kein Widerstreben, alle Kämpfe überwunden, hier ist Vollkommenheit. Während ich mich dem Strom meiner Gefühle hingebe, spüre ich, wie sich Wasser um mich sammelt, mich zu sich zieht, immer tiefer in den dunklen See hinein. Doch ich habe keine Angst, es fühlt sich warm an, wie eine zärtliche Umarmung, meine Lippen empfangen einen Kuss. Marina! Ihr Gesicht entfernt sich von meinem, ist nicht mehr schwarz, ein zartes Glimmen erscheint in ihm, wird heller, immer heller. Grenzenlos glücklich schaue ich in das strahlende Licht, eine längst vergessene Melodie dringt wie von Ferne an mein Ohr, während mich Wasser weich umhüllt. Sanft wiegt es mich hin und her.
Ja, so hat alles angefangen…
Dichtung und Wahrheit: Nur zur Sicherheit weise ich gerne noch einmal darauf hin, dass es sich bei diesem Text um eine fiktionale Erzählung handelt. Personen, Plot und Beschreibungen können Ähnlichkeiten mit ihren realen Motivgebern haben, aber ich habe sie verändert, verfremdet und „verdichtet“ – und den Ich-Erzähler dabei nicht ausgenommen. Den Starnberger See und manchen Spielort im Detail gibt es natürlich wirklich – und auch in der Realität kann ich den See und so manche Location sehr empfehlen (Tipps gerne per PN). 😉
©Martin Bensen, 28.10.2017