Alte Liebe (II)

Im Schatten ist es noch recht kühl. Das Meer ist über Nacht zur Ruhe gekommen, nur im letzten Auslauf wirft es noch kleine Wellen an Land. Obwohl ich Urlaub habe, bin ich früh wach, habe ich mich mit einer Liege und einem Buch an den Strand begeben. So früh am Morgen sind nur Bedienstete der benachbarten Ferienanlage und – ich muss es leider gestehen – ältere Menschen unterwegs, barfüßig am Meer entlang watschelnd, hier und da sich nach irgendeinem Treibgut bückend. Genau besehen sind es ausschließlich Männer, die meisten braun gebrannt und mit imposanten Wölbungen über ihrer Männlichkeit, die an diesem Strandabschnitt zum Glück in mehr oder weniger knapp bemessenen Badehosen verbleibt.

Dann traue ich meinen Augen nicht: War dieser alte Mann nicht schon vor langer Zeit hier, als meine inzwischen erwachsenen Kinder noch klein waren? Als wären all die Jahre nicht gewesen, steht er dort hinten im seichten Wasser, fischt mit seiner Reuse im Schlick nach Muscheln. Er scheint gar nicht gealtert zu sein – oder er wirkte damals einfach schon so alt, wie er als einziger weit und breit über den Stil seines Drahtkorbs gebeugt, bis zur Hüfte im Wasser stehend geduldig das Meer durchpflügte. Einmal hatte er unseren neugierigen Kindern seinen Fang gezeigt, lauter kleine bunte Muscheln. Damals hatte er sein Bäuchlein gerieben und einen Wohllaut von sich gegeben. Dass er damit ein Spaghetti-Mahl vom Feinsten zaubern werde, hatte er mit einer Kusshand angedeutet, hatten die Kinder aber nicht verstanden. Sie verwendeten diese bunten Muschelschalen als Schmuck für ihre Sandburgen. Ob er die Meeresfrüchte nur für sich einsammelt? Oder bringt er sie nach Hause und seine Frau macht diese feinen Spaghetti alle vongole, die sie in trauter Zweisamkeit bei Meeresrauschen und Kerzenschein genießen? Ich wüsste nicht, wie ich ihn danach fragen würde, selbst wenn ich mich traute, also belasse ich es bei dieser schönen Phantasie.

Von der Anlage kommt ein älteres Ehepaar, schlägt sein Lager mit Liegen und Sonnenschirm nahe, viel zu nahe, bei mir auf. Das Problem: Sie quatschen ohne Unterlass. Normalerweise liebe ich die italienische Sprache, dieses lebendige, leidenschaftliche und melodiöse, oft mit theatralischen Gesten verzierte Sprechen. Doch bei den beiden ist es, was es einst wohl war, dies alles nicht mehr. Sie sitzen wie Statuen in ihren Stühlen, bronzefarben in der Sonne leuchtend, aber mit starren, fast verhärmten Mienen. Nur ihre Lippen bewegen sich, formen Rede und Gegenrede, in stetem Wechsel, teils schrill, teils heiser. Alt und eingefahren.

Ich begebe mich näher ans Wasser, dahin, wo selbst das leise Meeresrauschen die anderen Geräusche übertönt, mich und meine Gedanken in Schwingung bringt. In dem Roman, den ich gerade lese, geht es um zwei Menschen, die sich über ihre Leidenschaft für La Mettrie ineinander verlieben, nach nur einer realen Begegnung auf der Terrasse am Bodensee sich über die Ferne entwickelnd, über Monate hinweg „fernmündlich“ und schreibend – er ein verheirateter „Privatgelehrter“ am schwäbischen Meer und sie eine 40 Jahre jüngere Doktorandin am anderen Ende des großen Teichs, in den USA. Gerade will ich das nächste Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Auseinanderkommen“ beginnen, in dem sich die Beiden endlich und jetzt in erwartungsvoller Liebe körperlich begegnen werden, da nähert sich ein zweites Paar von der rechten Strandseite her.

Schon gestern habe ich sie genauso, nur in anderer Richtung, am Wasser entlang laufen sehen. Genauer: sie mit strammen, gleichmäßigen Schritten, energischer Miene, umrahmt von einer rötlich-dunkel gefärbten Kurzhaarfrisur, eine eher stämmige Frau – er, ein hagerer Mann, mit doppelter Schrittzahl, der schwachen Andeutung eines Laufschritts, mit dünnem, grauem Haarschopf, faltigem Gesicht und hängender Unterlippe, wie ein Hündchen um sie herumtänzelnd. Nicht dass er sich einfach nur in doppelter Frequenz bewegt, er bespielt die (seine?) Frau geradezu, indem er ohne Unterlass redet, ihr vielleicht etwas erzählt. Doch weder wendet sie den Kopf, noch lässt ihr Gesicht irgendeine Regung erkennen. Hört sie ihm überhaupt zu? Warum lässt er nicht von ihr ab? Ist sein ganzes Streben, sie einmal zum Lächeln, vielleicht aus dem Tritt zu bringen? Beinahe auf meiner Höhe angekommen, strauchelt er im tieferen Sand. Sie marschiert weiter auf festerem Grund. Er wechselt auf ihre Seite, gerät dadurch hinter sie, verstummt, aber tänzelt weiter mit seiner hängenden Unterlippe, die plötzlich etwas trauriges an sich hat, gerade so, als hätte der ganze Mann aufgegeben, resigniert. Dann umspielt Wasser seine Füße, er lächelt, gewinnt offenbar neue Energie, denn jetzt holt er wieder auf, tänzelt an sie heran. Wieder auf gleicher Höhe bewegen sich seine Lippen, formen wohl weitere Geschichten. So entfernen sich die beiden aus meinem Blickfeld…

Der tänzelnde Charmeur und seine unnachgiebige Angebetete? Der Hofnarr und die Fürstin? Übermut hier, Kontrolle dort? Wie gerne würde ich die Beiden später sehen, beim gemeinsamen Drink, im Alltag. Tänzelt er dann weiter, während sie ihn einfach (links liegen) lässt? Oder holt sie ihn herunter von seinem zu schnellen Takt, seiner Unrast, seiner am Ende vielleicht doch nicht vergeblichen Werbung um ihre Gunst – herunter auf ein Gleichmaß, einen Takt, auf den sich beide Gemüter einpendeln, auf dass ihre Herzen noch lange mit- und füreinander schlagen können?

Ein versöhnlicher Gedanke – Phantasien eines ebenfalls in die Jahre gekommenen Mannes frühmorgens am Strand. Ich nehme mein Buch von meinem auch nicht mehr flachen Bauch, lese gespannt weiter, was die Phantasie des Erzählers mit seinem Paar anstellen wird. Denke nach über das Leben, das jeder nur selbst er-leben kann. Die Liebe, die alterslose, die wahre und ewige? Nein, sie ist veränderlich, vergänglich. Am schönsten und am vollkommensten ist sie wohl nur in der Phantasie. Im wirklichen Leben am ehesten an jenem zauberhaften Anfang, im Augenblick ihres Entstehens…

©Martin Bensen, 9. Juni 2017

Leseempfehlung: Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Reinbek bei Hamburg, 2006.