Nur Augenblicke

Vielleicht bin ich verliebt. Vielleicht auch nicht. Verknallt. Na, irgendwas ist da. Muss ja. Mein Herz klopft ganz stark, wenn ich sie sehe. Immer morgens, auf dem Schulweg, auf dem Fahrrad, wenn sich unsere Wege kreuzen, ich zu meiner Schule fahre und sie zu ihrer – in entgegengesetzte Richtungen. Es sind nur Augenblicke, morgens, ein, zwei Sekunden, ein gleichzeitiges Hallo, fast in gleicher Tonhöhe, ich bin gerade erst im Stimmbruch. Wir lächeln uns zu, ihr Mund ist schön, ihre langen rotblonden Haare, die im Fahrtwind wehen, warum fahre ich eigentlich so schnell? So schnell vorbei.

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Unwesentlich

Als Jakob Wecker pünktlich um Mitternacht von seiner einsamen Kneipentour zurückkommt und nur noch in sein Bett fallen will, sieht er sich selbst schon darin liegen. Aber nichts Lebendiges scheint an seinem Ebenbild zu sein, weshalb er nicht allzu sehr erschrickt, sich gleichwohl wundert, wie er oder der, welcher eine exakte Kopie seiner selbst ist, dort zu liegen gekommen ist. „Liegen“ ist wohl der falsche Ausdruck: Das, was unter der gelüfteten Daunendecke im Licht der Nachttischlampe zum Vorschein kommt, wirkt wie eine Folie, ein lebensgroßes Foto, eher schwarzweiß als farbig, mit der Kontur eines Körpers, eben seines Körpers.

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Die über allem thronen (Gastein)

Reisesplitter IV

Über allem thronen die, denen es an nichts mangelt, nicht ganz auf dem Gipfel, dem nur kargen und schroffen, zu weit droben, den man gut im Rücken wissen kann, weil sie doch so hoch thronen, dass sie über die Baumwipfel hinweg ins Tal blicken können, auf die Spielzeughäuser, die Matchboxautos in einem schrägen Spinnennetz von Straßen, mittendrin eine kleine gelbe Kirche mit spitzem Turm, der sich hoch gen Himmel reckt und doch längst nicht die überragt, die über allem thronen, denen es an nichts mangelt, die auch eine Krise überstehen, was nicht ausgemacht ist für die da unten,
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Traumgesichte (VIII): Der Mond verschwindet

„Wenn ich es dir doch sage!“ Was sollte ich noch tun, um sie zu überzeugen? Warum muss ich das überhaupt noch nach dreißig Jahren?
„Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr.“ Sie wirkt erschöpft. Ihr Blick ist müde. Sie sieht an mir vorbei nach draußen. Wir sitzen im Esszimmer, unser Tisch steht direkt vor dem großen Panoramafenster. Da draußen steht er: ein gelber Mond an einem tiefblauen Himmel zwischen Tag und Nacht. Die blaue Stunde – unsere blaue Stunde. Wie oft haben wir uns in sie gehüllt, wie in eine flauschige Decke. Hüllenlos. Uns geliebt. Uns zum ersten Mal geküsst. Die blaue Stunde war der Anfang. Ein Zauber. Und unser Glücksbringer. Aber das Glück hat uns verlassen. Der Mond wird das auch tun. Warum glaubt sie mir nicht?

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Traumgesichte (VII): Ein freundliches Wort

Dies ist es, was ich dir sagen will: Ein freundliches Wort geht in die Welt. Egal, wem du es sagst, wann du es sagst, wo du es sagst. Ein freundliches Wort wirkt immer. Ein Beispiel? Selbst der junge Mann am Nachtschalter der Tankstelle legt sich anders schlafen, im Morgengrauen, wenn du schon beinahe wieder aufstehst und dich gar nicht mehr erinnerst, dass du ihm Mut gemacht, dich nicht nur mürrisch bedankt, ihm viel Kraft für die Nacht gewünscht – ihm ein Stück Sicherheit gegeben hast, denn wer weiß, was für ein Gesocks sich noch zu ihm verirrt, lange nach dir, wenn du schon selig schläfst.

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Erster Schulweg

Von gegenüber auf dem Hügel, aus dem nächsten Dorf erklingen Trauerglocken. Eine Beerdigung, ein Gedenkgottesdienst? Heute ist der 11. September 2021, ein spätsommerlich-warmer Samstagmorgen. Nach den verregneten Hundstagen hat der September noch einmal aufgedreht und das Thermometer auf fast 30 Grad gejagt. Jetzt hat es wieder geregnet und leicht abgekühlt, es ist aber immer noch zwanzig Grad warm.

Ich sitze draußen beim Frühstück, blicke auf den sattgrünen Rasen, höre die Kirchenglocken, das Brummen von Rasenmähern, eine Motorsäge aus dem nahen Wald. Die Singvögel sind schon lange verstummt, nur noch einzelnes Gekecker und Gezirpe, das Krächzen von Rabenvögeln sind zu hören. Die Sonne drückt durch Regenwolken – ähnlich wie vor zwanzig Jahren, nur dass es damals schon zehn Grad kühler war, herbstlicher. Wir brauchen wohl eine Jacke, vielleicht eine Regenjacke, habe ich zu meinem Sechsjährigen gesagt. So sind wir los. Probelauf für den künftigen Schulweg. Es ist Dienstag, der 11. September 2001, morgen ist der große Tag – der erste Schultag meines Sohnes.

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Onkel Hans zeigt mir die Welt

Mein Onkel Hans war Architekt. Später im Ruhestand wurde er krank. Am Ende hatte er keine Chance und keine Kraft mehr. Onkel Hans war ein lebenslustiger, kultivierter, zugleich allem Kulinarischen zugewandter Mensch, natürlich sah man ihm das auch ein wenig an. Mit seiner feinen Art passte er nicht recht in unsere westfälische Bauernlandschaft. Seine filigrane Brille, seine sanften Gesichtszüge, der Genießermund und das sorgsam frisierte, blonde Haar – der blonde Hans, Hans im Glück, was machte so einer in dieser nach Gülle stinkenden, von Schweinemast dominierten Gegend? In meinem Leben tauchte er auf, als ich etwa vier Jahre alt war. Wir waren zu Besuch in seiner Wohnung, Tante Maria war auch da. Die Beiden waren in Hochzeitsvorbereitungen, und ich sollte ihr Blumenkind sein. Aber erst einmal wolle er mir die Welt zeigen, sagte Onkel Hans mit einem Augenzwinkern. Ich ahnte nichts Böses.

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