Damals, in den Achtzigern, habe ich einen Kurzfilm gesehen: Ein Modefotograf überschreitet die Grenze, lichtet seine Freundin mit der professionellen Kamera ab. Etwas, das sie immer abgelehnt hat. Als wüsste sie, warum: Es wird der Horror; als der Fotograf auf den Auslöser drückt, verschwindet seine Freundin. Erst denkt er, sie erlaube sich einen schlechten Scherz, bis er schließlich erkennt, dass das Unglaubliche geschehen ist: Sie bleibt verschwunden. Ist nur noch ein Foto, ein Negativ, noch dazu eines, das langsam verblasst wie eine Erinnerung, die vielleicht auch nur eine Illusion war. Und er, der die Welt bis dahin nur durch den Sucher, nur in Bildausschnitten betrachtet hat, ändert sein Leben. Lebt.
Wo bin ich jetzt? Eben noch saß ich am Laptop. Jetzt bin ich hier. Aber wo ist hier? Was zum Teufel ist das hier?
Konzentrier dich! Du warst im Chat, hast dich gelangweilt. Die Unterhaltung war wie immer zäh, nichtssagend. Warum tust du dir das an? Warum hast du es nie geschafft, dich mit ihr zu treffen? Das Chat-Tool war wie immer im Dark Mode, deine kleine Wohnung auch. Das Bier schon wieder alle. Du bedröhnt. Gut so. Du wärst gleich wieder ins Bett gefallen, hättest einen weiteren Tag abgehakt. Gute Nacht!, stand da. Wie lange schon, bevor es passierte?
Was ist überhaupt passiert? Du hast sinnlos herumgeklickt, bist abgerutscht und plötzlich gefallen. Hast dich noch über dieses sinnlose Gekritzel hinter den Chatblasen gewundert, diesen schwarzen Teppich voller Zeichnungen. Lauter Gegenstände. Alltagsgegenstände. Jetzt bist du mittendrin. Dein Kopf schmerzt. Im Traum tut nichts weh. Also träumst du nicht! Ist das da der Mond? Wenn schon ein blasser Mond, eher eine LED-Lampe. Ein schwarzer Himmel, Wolken? Einige schimmern dunkelgrün. Sterne? Nein, keine Sterne. Buchstaben! Spiegelverkehrt.
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Herrje, das ist ihr Text in unserem Chat.
Haben Sie schon mal auf einer Müllkippe gestanden? Auf einem Schrottplatz? So mitten drin im Gerümpel? Ich sage Ihnen, das ist kein Spaß. Und kein Traum. Trotz des fahlen Lichts erkenne ich einiges wieder, schemenhaft: Schaufensterbüsten, Waschmaschinen, Schilder, Stangen, eine Kaffeemaschine, ein Fragezeichen. Merk ich mir, steckt oft was Gutes dahinter. Idiot! Das war doch diese Fernsehshow in den Siebzigern. Mein Verstand spielt verrückt. Ich versuche aus dem Schlamassel rauszukommen, sehe nirgendwo ein Ende. Überall Gerümpel, Schrott, Wohlstandsmüll. Ganz handfest, nicht wie hinter den Chatblasen. Etwas reißt mir die Jogginghose auf. Erst kalt, dann warm. Blut? Blut! Kein Traum! Aber was dann? Raus hier! Raus aus dieser seltsamen Unterwelt.
Ich kann mich hochhieven, sitze auf einer leicht schrägen Waschmaschine. Sie schwankt, aber sie hält. Ich versuche aufzustehen, spüre den Alkohol in meinem Kopf, rieche den Gestank. Mir wird übel. Kein Traum, wirklich nicht! Im dritten Anlauf stehe ich auf der Maschine wie auf einem Surfbrett. Lang ist’s her … Kein Wind. Aber es ist kalt, mich fröstelt. Langsam fasse ich Mut, finde meine Balance. Da! Die nächste Waschmaschine ist in Sprungweite. Weiter hinten noch eine. Und noch eine. Das müsste klappen. Beherzt springe ich. Die steht fester. Weiter! Hinkepinke. Kindheit. Sechziger. Erinnere dich: Du warst der Beste. Zusammen mit Sabine. Ihr habt euch an den Händen gehalten, euch geholfen. Paarlauf. So ging es. Nur so. Die anderen Kinder waren neidisch, haben euch ausgelacht. War das schon Liebe? Eine ganz zarte, vielleicht die einzig wahre in deinem Leben …
Die kalte Hand. Klein, zierlich. Ich spüre lange Fingernägel. Jetzt krallen sie sich fest. Das tut weh! Mein Erstaunen wie Aufwachen, als ich sie unter mir entdecke. Sie reckt ihre andere Hand zu mir hoch, will dass ich sie hochziehe. Zu mir. Doch der Platz reicht gerade für mich. Spinnst du? Hier ist jemand und du denkst an dich?
»Ich find mein Smartphone nicht.« Ihr erster Satz als sie keuchend neben mir sitzt, eine zierliche Frau, blond, das Gesicht im Schatten. Kein Danke, aber ein Name: Zoe. Mechanisch nenne ich meinen: Eckhard. Ecki. Immerhin braucht sie nicht viel Platz auf dieser schrägen Fläche.
»Was ist das hier? Verd …« Ich schlucke meine Wut runter.
Schweigen. Kein Windhauch, überhaupt herrscht Grabesstille. Sie streicht sich durch ihr Haar. Ein schwacher Duft von Parfum hebt sich wohltuend vom Gestank des Gerümpels ab. Und von meinem Schweißgeruch. Wie gesagt: kein Traum!
»Hör mal …«, sage ich.
Sie lässt ihr Haar los, blickt mich offen an. Ein grünlicher Schimmer liegt auf ihrem Gesicht. Hübsch, denke ich, okay, die Schminke ist verlaufen. Sie hat wohl geweint. Ihr Kleid, ein leichtes, helles für den Sommer, ist so verschmutzt wie meine Sachen. Ich komme mir trotzdem völlig verwahrlost neben ihr vor. Und alt. Sie könnte meine Tochter sein. Oder sogar meine Enkelin.
»Mir ist kalt.« Sie zieht eine Schnute. Schöner Mund.
»Mir auch.« Was soll ich machen? Wenn ich meinen Pulli ausziehe, sitze ich mit nacktem Oberkörper vor ihr. Und ich finde in diesem Moment nichts Erotisches an diesem Gedanken. »Nochmal: Wo sind wir? Was passiert hier?«
Ein leichtes Schulterzucken. »Was weiß ich.« Ihre Stimme klingt trotzig. »Erklär du’s mir!«
»Was weiß denn ich?« Ich sollte froh sein, einen anderen Menschen an diesem seltsamen Ort zu treffen, doch diese Frau regt mich auf. Dabei ist sie doch nur so überfordert und verängstigt wie ich. Die Situation ist unbegreiflich – für uns beide.
»Was hast du getan, bevor du hier …?« Mir fehlt das richtige Wort.
»… ich hier gelandet bin?« Sie rammt ihre künstlichen Fingernägel in den linken Arm, schreit laut auf. »Fuuuck!«
»Kein Traum! Soweit bin ich auch schon. Aber was dann?«
»Ich hab gerade mein aktuelles Video gepostet«, nimmt sie meine Frage wieder auf, »und wollte noch schnell mein Date klarmachen, als mir schwarz vor Augen wurde.«
»Ohnmächtig geworden? Oder eher gefallen?«
»Ertappt!« Sie reibt ihren linken Arm, sieht nach vorn, wo es einfach nur dunkel ist, rabenschwarz. Dark Mode. »Da waren diese seltsamen Dinge neben den Chat-Bubbles. Ich glaub, ich habe sie zum ersten Mal überhaupt gesehen. Sie waren plötzlich in Bewegung, kreisten umeinander, immer schneller. Es war, als ob sie mich einsaugen. Das hier …«, sie lässt ihren rechten Arm über das Gerümpel schweifen wie eine Herrscherin über ihr Land, »… sieht genauso aus.«
»Ich fürchte, das ist es. Wir sind in einem Chat-Tool. Oder vielmehr dazwischen.«
»Bullshit!« Sie spuckt das Wort aus.
»Ja, was denn?«
»Bist du dumm? Das ist weird.«
»Was?«
»Weird, Alter. Der totale Abfuck hier. Völlig lost. Ich geh jetzt mein Handy suchen.«
Ich halte sie fest. »Hattest du es denn bei dir, als du … gefallen bist?«
»Lass mich los.« Sie wehrt sich ein bisschen, blickt mich dann mit großen Augen an. »Ist das wichtig?«
»Also, ich saß am Laptop, als es passierte.«
Sie stutzt, nickt kaum merklich. »Ich auch. Ich schneide meine Videos immer am Lap. Hab da aber auch mein Chat-Tool drauf.«
»Na, siehste, haben wir doch schon was gemeinsam.«
»Hättste wohl gerne. Ich bin Influencerin, hab ne halbe Million Follower. Und du so?«
Weil ich schweige, fährt sie fort: »Das, was ich im Monat verdiene, hast du wahrscheinlich im ganzen Jahr. Lass mich raten: Sozialhilfe, Sofa-Furzer, Social Hater?«
Das saß. Aber was heißt Hater? Das Internet ist mein Draht zur Welt. Hab da einige gute Kumpels. Die ticken genauso wie ich. Glauben auch nicht mehr den Scheiß von den Medien. Üben Kritik, und das völlig zu Recht. Die letzte Kneipe im Ort hat ja auch noch dicht gemacht. Gut, dass die alte Frieda noch den Laden macht. Sonst wär’s zappenduster. Wie hier.
»Ist aber auch egal. Ich will hier weg, verdammt!« Ihre Stimme klingt weinerlich.
»Okay, dann mach es mir nach«, sage ich lapidar.
Sie glotzt mich fassungslos an. »Hier rumhüpfen, oder was?«
»Warum nicht? Irgendwo muss doch ein Ende sein.«
»Wovon träumst du nachts?«
»Von besseren Dingen, das kannste mir glauben.«
»Fuuuuuck!«
»Sag mal!« Die Eingebung ist wie ein Schock, ich bekomme Gänsehaut. »Ist das hier der Ort, an dem du gelandet bist?«
»Ja, wieso?«
»Das da oben ist dein Text? Siehst du die grüne Blase? Lies mal!«
»Krass!« Sie hat die Kommentarblasen wohl noch gar nicht registriert. «Äh … Das ist doch alles spiegelverkehrt.« Sie schüttelt den Kopf, zeigt mir einen Vogel. Dann entdeckt sie etwas. Sie rutscht von der Maschine, verschwindet im Unrat und kommt fluchend wieder hoch. Sie reicht mir ein Tablett. Es ist aus Metall – und es spiegelt!
Sie steht auf der Maschine, wendet das Tablett in ihren Händen, findet endlich den richtigen Winkel, liest den Chat-Eintrag im Spiegel: »›Treffen wie immer?‹ – What the fuck, das ist mein Text … Schau, da drüben ist die Antwort!«
Schon ist sie unten, watet durch den Müll, flucht, kommt kaum voran. Ich springe lieber, lande auf der nächsten Waschmaschine, schräg unterhalb der grauen Blase.
»Gib mir das Tablett!«
»Ne ne«, keucht sie. »Ich will selber.«
»Ich glaube, das musst du auch.« Nur eine Ahnung, aber wer weiß?
»Okay«, sagt sie fast ehrfürchtig. Ich habe sie hochgezogen. Und nicht nur das. Mein Gefühl sagt mir, dass ich sie hochheben muss, zur Blase hin. Ihr Atem geht schnell, ihr ganzer Körper zittert. Ich rieche ihr Parfum, spüre die zarte Haut unter dem dünnen Stoff. Sie dirigiert mich. Hält inne. Liest. Ist weg. Aufgelöst in Luft. Das Tablett macht ein blechernes Geräusch auf meinem Kopf. Ich kann es gerade noch festhalten.
Sie hat es geschafft! Es hat funktioniert! Jetzt ich. Wo ist meine Blase? Verdammte Scheiße, wo kam ich her? Wo muss ich hin? Das sieht hier alles gleich aus. Mist! Rasend vor Wut will ich das Tablett wegschleudern, besinne mich im letzten Moment, nehme es hoch. Es schimmert immer noch über mir. Die Antwort ist noch da. Ich tariere das Tablett aus, lese:
23h club cu
»Einen Spezial für den Herrn da!«
Die Stimme kenne ich. Den Ort nicht. Er ist heller, aufgeräumter, wärmer und lauter. Musik. Eine Bar. Menschen sind da, junge Menschen. Jemand hat mich aufgefangen, jemand fächert mir Luft zu. Besorgte Blicke. Ein bekanntes Gesicht: Zoe! Die Influencerin. Sie reicht mir ein Glas mit einer grünlichen Flüssigkeit.
»Jetzt sind wir quitt«, ruft sie grinsend.
»Wo bin ich?«, flüstere ich.
Es ist zu laut. Ich versuche zu schreien. Ich schreie. Es klopft.
Ich wache auf. Das Display ist dunkel.