„‚Sollte sich ein Zusammenhang irgendeines von euch –‘ Er faßte den schwarzbärtigen Maschinenmeister ins Auge, der ein verdächtiges Gesicht machte, ‚– mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so zerschneide ich zwischen ihm und mir das Tischtuch. Denn für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Feind meines Betriebes und Vaterlandsfeind …'“
Heinrich Mann: Der Untertan, 1918
Die zwei Schwarzbärtigen gefallen ihm nicht. Geht es nur ihm so oder ist es in der Straßenbahn plötzlich kälter geworden? Nein, nicht wegen der offenen Tür, sondern seitdem die zwei Männer mit den Kapuzenpullis dort stehen. Sie sind zusammen eingestiegen, haben ihre Rollkoffer neben sich gestellt, sind gleich am Entwerter stehengeblieben. Auf dem Einzelplatz für Reisende und Behinderte sitzt eine alte Dame, ihm gegenüber. Gut, dass sie die Männer nicht sehen muss, denkt er. Ihre langen, schwarzen Bärte in den hageren Gesichtern, die düsteren Augenhöhlen, die bis über die Stirn gezogenen Kapuzen – solche Leute können einem wirklich Angst einjagen. Beide Männer blicken auf ihre Handys. Doch ihm können sie nichts vormachen. Er durchschaut sie.
Der mit der Brille ist besonders verdächtig. Tut so harmlos. Arglos. Oh nein, Bürschchen, das bist du sicher nicht. Auch nicht intellektuell. Religiös, das ja. Und das heißt dann auch gleich fundamentalistisch, fanatisch. Diese Religion ist so, da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Medien verharmlosen das, die herrschende Politik sowieso. Hier müssten die mal sein. Beim einfachen Volk. Wir, die einfachen Leute, müssen das doch aushalten. Und knallt’s wieder irgendwo, tun alle betroffen. Getroffen aber ist der kleine Mann, jawoll! Seine Meinung. Er sagt sie laut, in Großbuchstaben. Und sie wird gelesen. Auch er liest nur noch, was wahr ist. In seinen Kanälen.
Der große Koffer! Er wirkt schwer, findet er. Als ehemaliger Busfahrer kann er das einschätzen. Er möchte gerne glauben, dass er nur Reiseutensilien enthält. Der Koffer des anderen ist viel kleiner. Seltsam. Ob sie zusammen reisen? Ob sie überhaupt zusammengehören? Wieso bewegt der mit der Brille jetzt die Lippen? Betet er? Liest er etwas vom Handybildschirm ab? Oder flüstert er mit seinem Nebenmann? Wohl kaum.
Sein Blick fällt wieder auf den Koffer des bärtigen Brillenträgers. Wenn ein Sprengsatz dieser Größe hochgeht, zerbombt es die ganze Bahn und mit ihr auch den Tunnel. Dann muss er sich keine Gedanken mehr machen. Niemand der hier Anwesenden. Er wäre sofort tot. Die Bärtigen erst recht. Völlig zerfetzt. Sofort tot. Gnädig. Immer noch bewegt der mit der Brille seine Lippen, murmelt in seinen zauseligen Bart. Vertuschungsbart. Dutzendgesicht. Diese Typen sind doch alle gleich. Die pfeifen doch auf unsere Werte.
Er sieht die Frau an. Ihr Gesicht ist völlig zerfurcht. Die roten Augen lassen sie noch älter wirken. Sie hat alles gesehen, alles erlebt. Aber auch sie will leben. Jeder will leben, solange es eben geht. Solang der Herrgott will, denkt er und fragt sich, ob ihn Gott genauso verlassen hat wie er die Kirche, die dem Allmächtigen dienen soll. Als er ausgetreten ist, hat er überirdische Rache befürchtet, einen Schicksalsschlag, den Tod, nicht seinen, sondern den eines geliebten Menschen. Dabei liebt er eigentlich niemanden. Nicht mehr. Sich selbst am allerwenigsten. Es ist nicht schade um mich, nicht um die Alte. Lass das Ding doch hochgehen!
Früher hat er mal geglaubt, dass man sich selbst von oben sieht, wenn man gestorben ist. Das würde eine Seele voraussetzen. Oder etwas, das weiterlebt, wenn der Körper es nicht mehr kann. Das wäre ein Spektakel. Besser als jeder Actionkracher. Na komm, mach! Wenigstens ein paar Angstschweißperlen sollte der Bärtige schon auf der Stirn haben, findet er. Deswegen wohl die Kapuze. Niemand stirbt gerne. Vielleicht aus Verzweiflung. Oder eben fanatisch gottergeben. Heilsgewiss.
Die Bahn bremst. Am Hauptbahnhof leert sich die Bahn. Und wenn der jetzt dort, unter all den Menschen …? Er springt auf, ist mit zwei Schritten beim Türöffner. Noch vor den anderen. Er wagt es. Blickt den Brillenträger an. Findet ihn eigentlich nicht mehr bedrohlich. Sogar recht putzig, weil er kleiner ist als gedacht. Relationen: Der Koffer hat eigentlich auch Standardgröße. Ein rotes Herz baumelt am Griff. Der Bärtige lächelt jetzt, schaltet sein Handy aus, auf dessen Display ein Familienfoto verblasst. Er weist mit der Hand auf die sich öffnende Tür: „Bitteschön, nach Ihnen! Ich habe es weniger eilig als Sie.“ Seine Stimme ist sanft, sein Deutsch makellos.
Er macht, dass er nach Hause kommt. Soll er sich jetzt schämen? Er ist nunmal vorsichtig. Das schreibt er auch immer in die Kommentare. Heutzutage kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.