Es muss nicht grün, nicht leuchten

Ich habe noch nie gleichzeitig den Sand unter mir, dich mit mir, das Meer auf uns gespürt – uns beide in dieser einsamen Bucht.
Ich muss Luft holen. Der halbe Ball steht noch am Horizont, halb versunken schon im spiegelglatten Meer, das nicht spiegelt. Das nur verschlingt und nichts gibt. Nicht mir. Nicht meiner Sehnsucht.

Nein, auch das grüne Leuchten wie in dem schönen Film von Rohmer habe ich noch nie gesehen. Das Mysterium zeige sich nur Liebenden, heißt es. Der Legende nach werden jene, die es wie ein Augenzwinkern über den letzten Sonnenstrahlen sehen, diesen Moment fortan in ihrem Herzen tragen und in der Liebe nie mehr irren. Ich habe mich geirrt. Und wie! Ich werde das grüne Leuchten niemals sehen, nicht hier, nicht jetzt. Nur das Meer, aschgrau, bleischwer. Darüber der Himmel, farblos, blutleer. Wie ich.

Bis zu jenem Augenblick hatte ich nichts vermisst. Im Gegenteil: Ich hatte mich noch nie so ganz gefühlt, so vollständig, eins mit mir, dem Sand unter mir, dem Himmel über mir, dem Meer, das an mir leckte, mich probierte, scheu, lässig, es hat Zeit. Eine sanfte Brise streichelte meine Haut, als wäre sie nur für mich da. Für mich allein, denn ich war ja allein. Hier und jetzt und überhaupt. So saß ich halb im Wasser, als ein Schatten auf mich fiel und ich erschrak. Der fremde Mann setzte sich einfach neben mich. Betrachtete mich. Neugierig. Frech. Diese Augen, mein erster Gedanke, als ich zurückwich, ihn scheu ansah, die Hand schon in den Sand gekrallt, bereit, ihn in diese Augen zu schleudern. Vielleicht auch nicht. Ich lockerte meine Finger, ließ noch etwas Sand hindurchrieseln. Er nickte nur.

Was für ein hübscher Kerl! Einer von hier. Südländer, ein Mann aus Bronze. Er trägt nur eine Badehose. Eine grellrote. Sie betont seine Bräune. Wie glatt seine Haut ist! Warum sagt er nichts? Haben diese jungen Kerle hier nicht immer einen flotten Spruch auf den Lippen? Von wegen Amore, la bionda. Nun ja, ich bin blond, ein Blickfang hier. Meine beste Freundin findet mich schön. Aber sie liebt mich auch. Ich kann diese Liebe nicht erwidern. Nur einen schwächeren Grad davon. Wir sind trotzdem zusammen, als Freundinnen. Er bleibt stumm, sieht mich nur weiter an mit seinen warmen Augen, sodass mir ganz heiß wird. Wie rieselnder Sand der Schauer, der mir über den Rücken fährt. Jetzt lächelt er. Können Zähne blenden? Kann ein Mensch so schön sein? Wieder dieses Rieseln. Es ist echt. Es ist Sand. Er macht das. Immer wieder. Was denkt er sich? Meine Hand krallt sich wieder in den Sand. Der wohlige Laut aus meiner Kehle passt leider nicht. Klar, dass er feixt. Dieser Mund … Dann stoppt er. Steht auf. Lässt seinen Schatten wieder auf mich fallen. Und geht. Ist bald verschwunden. Im Sand steht ein Name. So ein Quatsch, so heißen doch alle hier. Ich wische ihn weg. Dabei ist er längst in meinem Kopf. Auch in meinem Herzen?

Natürlich bin ich am nächsten Tag wieder hier gewesen, nur im Bikini mit einem großen weißen Hemd darüber. Kein Handtuch, alle Wertsachen, selbst das Handy im Hotel. Ich habe meine fiebrige Vorfreude kaum zügeln können. Auch wenn sie einen gehörigen Dämpfer erhalten hat.
Ich bin nicht allein. Zwei Angler stehen am Wasser, zwar weit genug weg, aber sie sind da. Und mit ihnen der Gedanke, dass diese zwei Männer mit ihren langen Ruten im Sand meine Begegnung vom Vortag verschrecken könnten. So wie Tageslicht einen Vampir. Vielleicht ist er einer. Diese Sanftmut gepaart mit einer latenten Gefahr, die ich vernünftigerweise nicht ausschließen konnte – ich kannte ihn ja gar nicht. Nun, zumindest diese Unwägbarkeit ist mit den Anglern dahin. Sollte mich das trösten?
Am Tiefpunkt meiner Hoffnung ist er schließlich erschienen. Wieder habe ich erst seinen Schatten gespürt, ich war offenbar eingenickt. Das Frösteln hat mich geweckt. Das letzte Traumbild – das erste Bild der Wirklichkeit.

Wie eine Statue steht er da, ein Abbild jener Götter-Skulpturen, die ich aus dem Museum kenne. Ein schaler Vergleich, ich hasse solche Platitüden, sie sind dummes Gemeingut aus Schmonzetten, süßlich, klebrig. Als Kind habe ich meine klebrigen Bonbon-Hände mit Sand abgewaschen, wenn ich draußen gespielt habe. Jetzt krallen sich meine Finger wieder in den Sand, unwillkürlich oder vielleicht doch bewusst, weil ich spüren möchte, dass ich wach bin und das alles hier real ist. In Träumen riechen nicht. Er schon, er duftet nach allem hier und mehr.
Diesmal setzt er sich nicht. Er streckt seine Hand nach mir aus. Hastig ergreife ich sie und muss plötzlich an die Trauung denken. Ich habe viel zu schnell Ja gesagt, mich sofort geärgert, weil ich mir doch extra vorgenommen hatte, den Moment zu zelebrieren, ihn und all unsere Freunde etwas schmoren zu lassen – sie wird doch nicht … Cool sein wollte ich. Ich bin nicht cool. Und es war alles andere als cool, so jung zu heiraten. Meine Freundin hatte mich gewarnt. Ich hatte das als Eifersucht abgetan. Wie unreif ich doch war. Mein damaliger Mann nicht, er ist einige Jahre älter als ich, war mir weit voraus, hatte das Leben schon verplant. Unser Leben. Keine Ahnung, was ich jemals an ihm fand. Zum Glück haben wir kein Kind in die Welt gesetzt.
Er zieht mich mühelos in den Stand und für einen Augenblick möchte ich, dass er mich auf den Arm nimmt, mich fest an sich drückt, mich wiegt, uns beide langsam drehend, als seien wir ein Tanzpaar. Wie damals mein Vater und ich. Wo er jetzt wohl ist? Ob er mir gerade zusieht?
Ich halte seine Hand fest. Er lächelt wieder. Vertraut, nicht fremd. Dabei ist er doch ein Fremder. Hör nicht auf zu lächeln. Sag nichts.
Er sagt nichts, drückt meine Hand, nicht fest und doch männlich, stark. So gehen wir los. Unsere Schritte werden sofort eins. Aber wieso gehen wir in Richtung Angler? Eifersucht. Ich will ihn nicht teilen, mit niemandem. Nicht einmal sprechen soll er mit ihnen, die ersten Worte aus seinem Mund gehören mir.
Bitte sprich sie nicht an!
Tut er nicht. Und die Angler gucken nicht einmal. Bestimmt kennen sie sich, hier kennt jeder jeden. Oder ist es das, was ich noch aus meiner Kindheit weiß? Dass Angeln schweigen heißt – und töten. Einmal hat mich mein Vater zum Angeln mitgenommen. Erst war alles aufregend und neu, dann habe ich mich gelangweilt. Und gequengelt. Lärm gemacht. Nicht nur aus Langeweile. Ich wollte auch nicht, dass mein Vater einen Fisch fängt. Nicht nachdem ich die zappelnde Forelle beim anderen Angler gesehen hatte, wie er sie schnappte und festhielt, wie er den Haken herauswand und – das war das Schlimmste – dem armen Tier auf Kopf schlug, zweimal, dreimal, bis zur Erstarrung. Auch meiner. Nur dass ich noch lebte. Und tobte. Meinem Vater keine Ruhe mehr ließ. Seitdem habe ich Fisch verabscheut. Bis vor kurzem.
Er hält mich immer noch sanft. Seine Hand ist warm und weich. Ob er damit auch zuschlägt? Junge Männer prügeln sich, müssen sich behaupten, hier vielleicht noch mehr als da, wo ich herkomme, erst recht, wenn eine Frau im Spiel ist. Wie er wohl lebt? Was er wohl macht? Hat er eine Freundin? So hübsch wie er ist … Ich will nicht fragen, will einfach nur den Augenblick genießen, einen an den anderen reihen, auf einer Perlenkette von Augenblicken.
Ich drehe mich etwas nach hinten, sehe die gleichmäßigen Abdrücke unserer Füße, vier Füße im Gleichklang. In meiner Nase der Duft von Salzwasser, leicht fischig, nicht unangenehm, so ist das Meer, so ist der Süden. Ich schmiege mich an ihn, rieche die Sonne auf seiner Haut. Er hält an, nimmt meine andere Hand, Wasser umspült unsere Füße. Zum ersten Mal schauen wir uns richtig an, unsere Blicke beginnen zu verschmelzen, wie unsere Lippen, sie öffnen sich, unsere Zungen berühren sich, erst vorsichtig, dann immer forscher, sie umspielen und schmecken einander, während ich mich fest an ihn drücke, er mich an sich, und wir uns drehen, zu tanzen beginnen und unsere Füße immer wieder einsinken, von Meereszungen liebkost.
Es ist dieser Moment, der meinen Verstand ausschaltet und mein Verlangen ins Unermessliche steigert. Ich will diesen Mann. Hier und jetzt. Ganz und tief. Sein Spiel im Spiel der Wellen, die schäumende Gischt auf ihm, der Sand unter mir. Wir zwischen Himmel und Erde.

War es also doch nur ein Traum. Als ich erwachte, war er fort. Vielleicht nie da gewesen. Der Gedanke stach wie ein Dolch, ich sprang auf, ignorierte den leichten Schwindel, hastete in die Richtung, in der zuletzt die beiden Angler waren. Auch von ihnen keine Spur. Spur! Unsere Fußabdrücke! Lieber Gott, lass sie noch da sein. Das Meer war nicht nähergekommen. Bist du eigentlich blöd? Hier gibt es keine Gezeiten! Ich lachte lauthals los, schreckte eine Möwe auf. Genau dort! Da war was. Hatten wir nicht da gestanden? Da, wo der Sand aufgewühlt ist. Kinder, schoss es mir in den Sinn. Hier sind keine Kinder! Aber wieso ist hier keine einzige Fußspur? Weder von hier weg noch hierhin. Die Angler! Auch nur ein Traum?
Der Zweifel ist ein Teufel. Einmal in dir, lässt er sich nicht mehr austreiben. Schon gar nicht mit Vernunft. So gern wollte ich an meinen Traum glauben, doch je mehr ich über ihn grübelte, desto blasser wurde er. Dafür brannte mein Verlangen umso stärker. Was brauchte ich das grüne Leuchten, wo ich so voll von Liebe war, so unendlich erfüllt.
Und nirgendwo du.

Ich muss gehen. Mein Rückflug startet in aller Frühe. Soll ich die Nacht hier verbringen? Wozu? Draußen auf dem Meer blinken Lichter. Eines ist grün. Künstlich grün, kein Zauber, menschengemacht, ein Tanker steuert den nahen Hafen an. Einmal bin ich dort gewesen, habe die möwenumschwärmten Kutter mit toten Fischen gesehen und schleimigem Getier. Es hat mir nichts ausgemacht. Nicht hier. Im alten Hafen habe ich mich draußen in eine Bar gesetzt, wo es weniger nach Schiffsdiesel und Schmieröl als nach Tabakrauch und Alkohol gerochen hat, wenig später nach Meeresfrüchten mit Knoblauch. Viel Mut habe ich nicht mehr gebraucht, das Essen ist köstlich gewesen. An diesem Nachmittag habe ich das Gefühl größter Glückseligkeit gehabt. Und noch nichts vermisst.

Ich stehe auf, als das Mondlicht nicht mehr weißer wird. Mein langer Schatten eilt mir voraus. Ich habe keine Lust zu packen, will eigentlich auch nicht gehen. Aber was hält mich hier? Mein Schatten weist mir den Weg, dabei kenne ich den auswendig. Er stößt auf einen anderen Schatten. Ich schaue auf.
Er lächelt.
Er hat mich erwartet.

©Martin Bensen