Wei(na)ch(t)en

Fünf Tage schon. Jeden Tag zur selben Zeit. Pünktlich. Das war nicht leicht, denn er kann nicht einfach Feierabend machen, wann es ihm passt. Zweimal hat seine Abteilung spontan späte Meetings angesetzt. Er hat sich entschuldigen lassen. Das macht einen schlechten Eindruck. Aber er musste einfach die Straßenbahn um 17:02 Uhr erreichen. Ankunft Charlottenplatz um 17.25 Uhr. Dort wird die Frau einsteigen. Heute wird sie es schaffen und er wird sie endlich wiedersehen. Richtig sehen. Es kann gar nicht anders sein.

Das ganze Wochenende hat ihn die Sache beschäftigt, diese Frau. Jetzt auch. Immer wieder spielt er in Gedanken durch, was passiert ist. Oder nicht passiert ist. Die Straßenbahn fuhr gerade wieder an. Er saß links am Fenster, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, und blickte genau in dem Moment hinaus, als die Frau mit den roten langen Haaren und dem samtblauen Mantel noch ein Stück mitlief, sogar den Knopf an den Türen drücken konnte – natürlich gingen die jetzt nicht mehr auf -, schließlich aufgab und sich frustriert wegdrehte, zur Bank, zu den anderen Wartenden. Wie gern hätte er dort gesessen und nicht im Zug, der bald darauf aus dem Untergrund nach oben fuhr. Dort unten, an der Haltestelle Charlottenplatz, hätte er sie trösten, ihr wenigstens einen aufmunternden Blick zuwerfen können. Vielleicht hätte sie sich neben ihn gesetzt und vielleicht hätten sie ein Gespräch angefangen, sich kennengelernt. Vielleicht.
Sie hat so traurig ausgesehen. Und so schön. Ein so liebes Gesicht hat er noch nie gesehen. Selbst im kalten Neonlicht der Untergrundstation strahlte es Wärme aus. Wie würde er dieses Gesicht anhimmeln bei Kerzenschein. Er stellt sich vor, wie er mit ihr bei seinem Lieblingsitaliener sitzt, wie Antonio die Hände ringen würde. »Mama Mia«, würde er vielleicht rufen. »Ora il Natale può arrivare!« Seine Phantasie geht mit ihm durch; er weiß gar nicht, wie der Chef des Ristorante heißt, hat sowas ähnliches in einem Roman gelesen.
Er blickt auf sein Smartphone wie alle um ihn herum. Nur noch eine Woche bis Weihnachten. Na und? Dann würde er genauso allein zuhause sitzen wie an den meisten Abenden. Ohne Glitzer und Glanz. Das gab es überall um ihn herum schon genug. Und seit ihn seine Frau verlassen hat, mit dem Kind weit weg ans andere Ende der Welt gezogen ist, hat er auch das Fest der Liebe verloren. Warum hadern? Er hat sich daran gewöhnt, über diese stillen Tage selbst stillzuhalten, sie passieren zu lassen wie Allerweltstage, selbst die Zeit zwischen den Jahren und den Jahreswechsel. Was hat er auch zu feiern? Es gibt nichts mehr, das es wert wäre. Er hat sich abgewendet von allen, den gemeinsamen Freunden, hat sich nicht mehr um neue Freundschaften bemüht. Soziophobie ist sein zweiter Name geworden. Nein, Phobie ist falsch. Diese Frau, sie macht ihm keine Angst. Ganz im Gegenteil.

***

Sie ist verzweifelt. Tränen steigen ihr in die Augen, als sie schon oben an der Treppe die Rücklichter der abfahrenden Straßenbahn sieht. Wieder gesellt sie sich zu den Wartenden, der ewiggrauen Masse, einheitlich abwesend, im Widerschein von Smartphones die Gesichter, so kalt wie das Licht hier unten.
Sie ist außer Atem, wenn auch nicht so sehr wie am letzten Freitag. Da hätte sie die Bahn fast noch geschafft. Auch da ist sie die Treppe hochgerannt, den Bahnsteig entlang, hat die Bahn noch eingeholt, hat den Türöffner gedrückt, obwohl sie weiß, dass nichts mehr geht, wenn der Zug schon in Bewegung ist. Wie vor einer Woche muss sie wieder zehn Minuten warten. Zehn Minuten zu lange. Der Kindergarten schließt in wenigen Minuten, es ist ohnehin schon der spätestmögliche Zeitpunkt zum Abholen, eine lange Zeit von morgens um acht, wenn sie ihren Kleinen bereits dort abliefert. Wenn nicht noch ein wichtiger Termin dazwischen kommt, schafft sie es auf 17 Uhr oder sogar noch früher in die Kita. Aber eben nicht immer. So wie heute wieder.
Sie ist in diesem Monat schon dreimal zu spät gekommen. Beim dritten Mal ist die Übergabe frostig gewesen. Ein ernstes Gespräch mit der Kita-Leiterin ist wohl unvermeidlich, schätzt sie. Aber sie braucht den Platz. Unbedingt! Ihr Job ist fordernd, Homeoffice nicht mehr drin. Sie hat sich bemüht, hat ihre soziale Härte als Alleinerziehende geltend gemacht. Doch man will sie partout »vor Ort« haben, ansonsten…
Vor Ort ist mit der Bahn schneller zu erreichen als mit dem Auto. Nur für die Kita muss sie leider umsteigen. Den Kinderwagen kann sie dort lassen. Beim letzten Mal hat die einzig verbliebene Erzieherin ihren Sohn schon angezogen und warm verpackt hineingesetzt. Click & Collect, zur Abholung bereit. Draußen vor dem Tor. Der Anblick hat sich ihr ins Herz gebohrt. Tausendmal hat sie sich entschuldigt, es hat ihr sehr, sehr leid getan. Der Erzieherin gegenüber, aber noch mehr ihrem Kind, das schon rote Bäckchen gehabt hat. Zuhause haben sie dann ganz lange gespielt, obwohl sie todmüde gewesen ist.
Als sie endlich in der Bahn sitzt und schon bald oben die vielen Lichter sieht, die geschmückten Läden, kriegt sie eine Panikattacke. Sie hat noch nichts vorbereitet, kein einziges Geschenk gekauft. Sie selbst könnte inzwischen gut auf Weihnachten verzichten. Doch ihrem Kind kann sie das nicht antun. An Weihnachten wird es besonders intensiv fühlen, was glückliche Kindheit ist. So wie sie. Wie sehr hatte sie das Fest herbeigesehnt, sich darauf gefreut, endlich Geschenke auszupacken, selig und ausdauernd mit ihnen zu spielen, das es auch den Eltern eine Freude war. Sie haben ihr jeden Wunsch erfüllt. Das Christkind ist immer lieb gewesen. Lange hat sie daran geglaubt und manchmal kann sie die naive Illusion noch fühlen. Spätestens dann, wenn ihr Sohn im Glanz des Weihnachtsbaums sitzen wird, mit großen Augen, im Duft der Tanne und von Lebkuchen und Plätzchen. Einen Baum kaufen, Geschenke besorgen, Plätzchen backen – mein Gott, wann?

***

Wieso ist ihm das nicht früher eingefallen? Zwei Haltestellen hat er schon hinter sich. Bei der nächsten steigt er aus. Nein, er ist noch nicht zuhause und es ist mehr als eine fixe Idee, das spürt er: Was, wenn sie die Bahn heute wieder verpasst hat, so wie letzten Freitag? Was, wenn sie in der nächsten sitzt? Bisher ist sie wohl mit früheren Bahnen gefahren, aber da musste er auf Lücke gehen. Er hätte unmöglich früher freimachen können, um auf dem Bahnsteig zu lauern. Später hätte das vielleicht Sinn gemacht, aber er hatte Angst, dass er aus- und sie woanders gerade einsteigt. Er hat genau deswegen ja immer an der nächsten Station den Wagen gewechselt.
Sie wird wieder die 15er nehmen, da ist er sich sicher, ohne dass er sagen könnte, warum. Trotzdem schaut er angestrengt in jede folgende Bahn. Die Wagen sind zu voll, als dass er die Frau sicher ausmachen könnte.
Wo wird sie einsteigen? Vorne oder hinten? Vorne ist es meist voller. Er hat sich nie gefragt, warum. Die meisten Leute kommen von hinten auf die Bahnsteige und wenden sich am Ziel auch wieder dorthin. Warum zieht es sie nach vorne? Weil sie sich dort sicherer fühlen? Erwarten sie, dass, wenn jemand aggressiv wird, der Straßenbahnfahrer oder die -fahrerin es sieht und zumindest über Funk eingreifen kann? Ist die Frau auch so drauf? Es hilft nichts, er muss sich entscheiden. In zwei Minuten kommt die 15er. Er wird hinten einsteigen und wenn er sie dort nicht entdeckt, an der darauffolgenden Station nach vorne wechseln. Das kennt er ja schon. Trotzdem könnte es eng werden, vielleicht muss sie nämlich gar nicht so weit fahren. Er zittert. Vor Kälte und vor Spannung.

***

Noch zwei Haltestellen. Dieser Weg ist eigentlich kurz. Doch sie wird trotzdem zu spät kommen. Wenn sie aussteigt, muss sie nur noch den Buckel hoch. Die Kita liegt am Ende einer Sackgasse direkt unterhalb der Stäffele bis ganz oben, zur Halbhöhenlage. Sie hat den Platz noch nicht so lange. Die Pandemie kam ihr nicht ungelegen. Schnell war klar, dass das Management geschlossen ins Homeoffice gehen würde. Damals war der Vater ihres Kindes noch zuhause. Und damals lernte er die Frau kennen, mit der er jetzt zusammen ist. Auf einem seiner Waldspaziergänge mit Kinderwagen. Die Andere hat eine Tochter im Alter ihres Sohnes. Mit seinem eigenen Kind hat ihr Freund nur einmal Weihnachten gefeiert – was heißt gefeiert? Die Heilige Nacht haben sie notgedrungen durchgemacht, weil der Kleine schmerzhafte Koliken und wie am Spieß geschrien hat. Das nächste Fest im Lockdown hat sie dann allein mit ihrem Sohn gefeiert. Da konnte er gerade laufen und war früh müde. So haben sie diese Heilige Nacht regelrecht verschlafen.
Sie spürt die Müdigkeit. Die Doppelbelastung aus Beruf und Kindererziehung stresst sie. Ihr Sohn ist kein einfaches Kind. Wahrscheinlich kommt er nach ihr. Sie ist hypersensibel. Sie brauchte eine Unzahl an Therapiestunden, bis ihr das klar wurde und sie durch eigene Disziplin aus dem seelischen Tief herauskam. Ihr Sohn wird es leichter haben, aber er braucht viel Zuwendung. Und einen geregelten Tagesablauf. Hat ja heute schon wieder super funktioniert – wieder kommen ihr die Tränen.
Die Bahn bremst ab, hier muss sie raus. Sie stolpert zur Tür, drückt den Knopf, will auf den Bahnsteig treten, da steht ein Mann direkt vor ihr. Drängler kann sie jetzt gar nicht gebrauchen. Sie will ihn einfach zur Seite drücken, als sie seinen Blick sieht und stutzt. Es ist, als hätte er auf sie gewartet.

***

Endlich! Die Bahn bremst, die Türen gehen auf. Er will keine Zeit verlieren, steigt unhöflicherweise direkt ein und prallt gleich mit jemandem zusammen. Mit ihr! Er kann es kaum fassen, er hat sie tatsächlich gefunden. Dieser Blick: erst verärgert (natürlich, er versperrt ihr den Weg), dann erstaunt (wie er) und schließlich so lieb, wie er es von dem einen Moment am vergangenen Freitag in Erinnerung hat. Sanft berührt ihre Hand seinen Unterarm, schiebt ihn erstaunlich energisch hinaus, und während die Menschen an ihnen vorbeiströmen, sich die Türen blinkend schließen, stehen die Beiden für einen weiteren magischen Moment auf dem Bahnsteig und blicken sich immer noch an.

***

Sie hakt sich bei ihm unter, zieht ihn mit sich nach vorne zur Fußgängerampel, wo sie eng beieinander stehen, als würden sie sich schon eine Ewigkeit kennen – als wären sie zusammen. Beide blicken jetzt starr nach vorne, als misstrauten sie dem Wunder, das gerade passiert, als könnte der Zauber verfliegen, wenn sie sich wieder ansähen. Ein Lächeln huscht durch ihr Gesicht, springt auf ihn über. Er drückt seinen Arm mit ihrer Hand ganz fest an seinen Körper. Sie hält still, lockert ihren Griff kein bisschen. Sie atmen synchron, stoßen weiße Wölkchen aus, die sich in den Scheinwerferkegeln der Autos vereinen und auflösen. Die Ampel wechselt auf grün. Sie gehen im Gleichschritt. Alles fühlt sich so vertraut an, so wundervoll innig. Alles wird gut, denkt sie und weiß, dass es ihm genauso geht.
Sie erreichen den Kindergarten. Es brennt noch Licht. Drinnen wird geredet und gelacht. Der Duft von Punsch und Weihnachtsbäckerei erfüllt den Flur. Sie betreten den Gruppenraum, sehen Eltern zusammenstehen und Kinder zwischen ihnen toben. Da ist ihr Sohn. Er stürmt auf sie zu, sieht ihren neuen Begleiter, greift ihre Hand, dann seine und führt sie zu einem Tisch mit Teelichtern, Tannenreisig und einer großen Schale Weihnachtsplätzchen. Er nimmt davon, reicht ihr eines und ihm ein anderes. Und als sie beide probieren, sich dabei ansehen, klatscht er in die Hände und lacht so ausgelassen, wie sie es von ihrem Sohn noch nicht kannte. Die Leiterin kommt mit zwei Punschtassen.
»Auf das Fest der Liebe«, sagt sie und lächelt alle Fragen und Sorgen weg.

©Martin Bensen