Hand in Hand

Jeden Stein, jede Pfütze, die der Regen in diesen Tagen immer wieder füllt, kennt er. Warum nur geht er trotzdem diesen Weg? Erst runter, recht steil sogar, dann oberhalb des Dorfes im Tal an den wenigen tristen Häusern in Hanglage vorbei, aus denen kein Leben dringt, kein Geräusch, einer Totensiedlung gleich, und wieder hoch über eine Kurve, den ganzen Weinberg in Serpentinen bis zu seinem Ziel ganz oben, das auch der Anfang ist. 4,6 Kilometer Bewegung und Draußensein, mehr aber auch nicht. Jeden Tag schließt sich der Kreis in seiner piekfeinen Siedlung, seinem abgehalfterten Haus, dem Schandfleck der Nachbarschaft. Nur heute ist etwas anders. Das ahnt er aber noch nicht.

Die schiefergraue Wolkendecke reißt gerade zum richtigen Zeitpunkt auf. Er wird keinen Schirm brauchen. Hat er je einen mitgenommen? Er liebt es nass zu werden, meistens ist ihm dieses Vergnügen versagt. Gut gewählter Zeitpunkt? Glück? Um Punkt 14 Uhr startet er seine Runde. Immer nach dem Mittagessen um 13 Uhr, dem Leuchtturm des Tages, weit entfernt, ein Höhepunkt zu sein. Es strukturiert immerhin seinen Tag, zusammen mit dem Spaziergang, dem immergleichen, immer zur selben Zeit, komme, was da wolle, zwei Jahre jetzt schon. Lange hatte er sich eingegraben, selbst vor Freunden, untröstlich, unversöhnlich, unnahbar, hat für seine Besorgungen lange Wege in Kauf genommen, zu Orten, an denen ihn niemand kennt, hat alle Versuche der Kontaktaufnahme abgeblockt, selbst wohlmeinende Nachbarn am Zaun ignoriert, ihre Hilfsangebote, ihre Mitleids- und schließlich Unmutsbekundungen. Jegliche Menschen wurden ihm herzlich gleichgültig. Erst als alle Anrufe ausblieben, kein ungebetener Besuch mehr zu erwarten war und die Post wie auch seine Mails nur noch aus Rechnungen und Reklame bestanden, fühlte er sich endlich frei. Das war schon was, nach allem, was ihn in diesen zwei Jahren belastet, was er nur mit sich ausgemacht hat und was schließlich damit endete, dass er jegliche Erinnerung an seine Liebste nicht nur in seinem Herzen, sondern auch in seinem Garten begrub. Er ist ganz auf sich gestellt, und das ist gut so.

Als er das Türchen zu seinem Vorgarten schließt, weiß er, dass etliche Augenpaare seinen Bewegungen folgen. Er hat eine Weile gebraucht, um zu erkennen, dass er sich zwar nicht unsichtbar machen kann, aber dennoch unbehelligt bleibt, wenn er einige Grundregeln einhält. Für die Renovierung seines Hauses reicht das Geld nicht, aber trotz seiner immer weiter attestierten Arbeitsunfähigkeit ist er fit genug, die augenfälligsten Schäden selbst zu reparieren, seinen kleinen Vorgarten in Schuss zu halten. Ein Tribut dafür, in Ruhe gelassen zu werden – gerade hier unter den alemannisch geprägten Dörflern, die schon früher unliebsame Menschen aus ihrer Mitte verbannten. Den vielen Neureichen in seiner Siedlung ist er ohnehin ein Dorn im Auge. Immobilienhaie umkreisen sein bescheidenes Haus, das ihm noch Schutz bietet, doch wie lange noch? Schon deshalb muss er sich zusammenreißen, muss er raus und seine Runden machen. Sie tun ihm gut. Sie sind seine Lebensversicherung.

An das kleine Waldstück zu Anfang seines Weges schließen sich Schrebergärten an, einige putzig und gepflegt, andere halb verwahrlost, mit ausgezehrten Ziegen, die kaum noch Gras finden und ihn jedesmal anklagend anglotzen, stumm und lethargisch wie Bettler. Sobald er die verwilderten Streuobstwiesen mit den flechtenübersäten Skeletten der Obstbäume passiert hat, öffnet sich der Blick ins Tal mit dem Dorf. An diesem Punkt verweilt er kurz, lehnt sich an die Trockenmauer am Fuß des gegenüberliegenden Steilhangs voller Weinreben mit schweren, blauen Trauben und blickt über die Brombeerbüsche hinweg nach unten. Eigentlich kennt er diese Ansicht auswendig, könnte sie aus dem Gedächtnis zeichnen, wenn er denn zeichnen könnte: die wie zufällig zusammengewürfelten, geduckten Bauernhäuschen, die kleine Kirche mit dem spitzen Turm, um die sie sich scharen wie Schäfchen, die sich vor jeglichen Gefahren von den umliegenden Hügeln drängen, als suchten sie Schutz, gottesfürchtig, pietistisch, im Jammertal des irdischen Daseins. Weiter zum Neckartal hin, das über Fabrikgebäude hinweg einen Ausschnitt zur Schwäbischen Alb freigibt, steht das weltliche Gemeindehaus des Dorfes: die Kelter. Bei Festen war er dort oft mit seiner Liebsten, umgeben von ihren gemeinsamen Freunden; sie haben gefeiert, getrunken und gelacht, was bei ihm stets im Vollrausch endete und noch in der Nacht einen furchtbaren Kater zur Folge hatte. Heute gönnt er sich nur noch ab und zu ein Glas Wein, zumeist einen Italiener oder Franzosen, obwohl der hiesige inzwischen weitaus trinkbarer geworden sein soll als früher. Aber auch diese Abkehr von ehemaligen Gewohnheiten gehört zu seinem selbstgewählten Eremitentum.

Sie haben mich nie wirklich gekannt, denkt er, während seine Knie unter den Abwärtsschritten knirschen, nicht einmal in den guten Zeiten. In seinem ganzen Leben hat es nur einen Menschen gegeben, dem er blind vertraut hat und mit dem er sich ohne Worte, sogar ohne Berührungen verstand, diese gleichwohl genoss, selbst dann, wenn er satt und befriedigt und körperlich fast am Ende seiner Kräfte war. Sie hat ihm alles abverlangt, er ihr alles gegeben – und umgekehrt. Sie waren eine Einheit, Symbiose pur. Als sie starb, hätte auch er sterben müssen. Doch das tat er nicht. Beim besten Willen nicht. Niemand kann diesen Verlust aufwiegen, niemand darf das! Wäre er gläubig, hätte er vielleicht Hoffnung – Hoffnung auf ein Wiedersehen „dereinst“, irgendwo, wo sie sein mag und er noch hingehen würde. Doch er glaubt nicht daran. Als sie starb, war sie schlagartig weg. Nicht mehr da. Kein Zeichen, kein „Erscheinen“, als was auch immer – eine Taube am Fenster vielleicht oder was immer so erzählt wird – keine Ahnung oder ein Gefühl, sie könnte da noch irgendwo sein. Nichts. Nicht einmal in seinen Träumen. Nur in seiner Erinnerung. Und selbst die ist so schnell verblasst, wie die Tränen getrocknet sind. Nur die Liebe bleibt, unerwidert jetzt, unstillbar, unmöglich.

In der Kurve zum steilsten Stück hinunter hat der Hang zu seiner Linken eine Falte. Direkt in diese Falte drückt sich ein schmales Haus mit einem Steingarten, der über drei Stufen aus mächtigen Felsquadern zu betreten ist, durch ein mannshohes Tor aus senkrechten Holzlatten. Er nennt es heimlich „das Himmelstor“, denn es ist so blau, wie der Himmel in diesem Sommer nur selten ist, blau wie eine Kornblume, seine Lieblingsblume – die Blume der Romantik, das Symbol ewigen Sehnens. Wie immer schaut er hinauf zu diesem Tor und dann zum Himmel, der sich wieder wolkig, aber doch freundlich zeigt, mit weißen Wolkenwattebäuschen, vor denen das Blau umso kräftiger wirkt. Wie in Griechenland, denkt er jedes Mal, wo sie ihren letzten Urlaub hatten und am liebsten für immer geblieben wären. Nirgendwoanders sind die Sterne so nah, wie funkelnde Götter, blinkende Seelen.

Erst bemerkt er sie nicht, etwas an seiner linken Hand, eine Berührung, zart wie ein Lufthauch. Er sieht nach unten, rechnet mit der Ähre eines langen Grashalms, einer Fliege, doch er steht mitten auf dem Weg, allein, nichts ist an seiner Hand. Er reißt sie hoch, betrachtet sie genauer, erschrickt über seine Empfindung. Tränen schießen ihm in die Augen. Kaum dass er es gespürt hat, hat es ihn wieder losgelassen. Er will nicht, dass es ihn loslässt. Er kennt es. Er liebt es. Liebte es. So hat sie ihn oft berührt. Hinterhältig zärtlich, hinterrücks lieb, ihre kleine, weiche Hand, die sich in seine schiebt, ihn immer wieder überrascht und augenblicklich glücklich macht, sodass er sie reaktionsschnell umschließt, abrupt, aber zärtlich, behutsam, beschützend – niemals wird er sie loslassen. Hand in Hand, für immer verbunden.

Während das Blau vor seinen Augen verschwimmt, lässt er seine Hand wieder sinken, öffnet sie, dreht sich um die eigene Achse, hastet einige Schritte hinauf und wieder hinunter, stolpert fast, und schluchzt so laut, dass die Grillen für einen Moment innehalten. Endlich klärt sich sein Blick, sein Verstand setzt ein und als er seinen Spaziergang schließlich fortsetzt, ist ihm, als brächte ihn jeder Schritt von diesem einen, innigen Moment fort – und wieder zurück in sein gewohntes Leben. Oben sieht er noch einmal hinab, kann von hier aus die Hügelfalte mit dem blauen Tor nicht sehen. Das ist auch gut so, denkt er, am Ende wirst du noch ein Fall für die Irrenanstalt.

Am späten Abend reißt der Himmel vollständig auf. Ein warmer Wind vertreibt die letzten Wolkenfetzen. Er tritt ans Fenster, kippt es, riecht den Duft des Sommers, hört in der Ferne die Grillen. Er öffnet die Gartentür, tritt auf die Terrasse mit den von Baumwurzeln aufgeworfenen Platten, wo er seit ihrem Tod nicht mehr gesessen hat, und sieht hinauf. Der Anblick lässt ihn taumeln. Anders als sonst ist der Himmel tiefschwarz, aber übersät mit Sternen, so hell, wie er es in diesen Breiten nie zuvor gesehen hat. Und noch ehe er recht begreift, was geschieht, spürt er eine warme Hand in seiner linken.
Diesmal schreckt er nicht zurück. Er erinnert sich, genießt den Augenblick, hält ihn fest, ganz behutsam. Sie ist da. Er spürt sie, sieht nicht zur Seite, sondern weiter zum Himmel. Und er weiß genau, was passiert: Eine Sternschnuppe löst sich aus dem Meer der Seelen, rast hinab zur Erde.
Wünsch dir was, sagt sie in seinem Kopf.
Du weißt ja, was, denkt er.
Wünschen heißt leben, sagt sie und lässt los.
Er lächelt. Lange. Noch im Schlaf.

©Martin Bensen