Da sitzen sie, stecken ihre Köpfe zusammen. Die Espressotassen auf dem Tisch sind längst ausgetrunken. Während der Kaffeesatz eintrocknet, sprudeln Worte aus den Männern. Eigentlich redet nur einer, ein junger, leicht untersetzter Typ, hemdsärmlig, gestikulierend. Er spricht italienisch. So schnell, dass ich nur Bruchstücke verstehe und fast nichts von jener schwärmerischen Melodik dieser schönen Sprache wiedererkenne, für die ich die mediterranen Europäer so beneide – neben vielem anderem. Ist es das ruppige Wetter in Deutschland, die immer noch steife Draußenkultur, überhaupt das ganze stocksteife Deutschtum? Oder warum ist er so in Aufregung, sind die Gesichter seiner beiden Zuhörer so ernst? Was um alles in der Welt ist denn so wichtig, so schlecht, dass alle drei Männer beinahe verschwörerisch dasitzen, vornübergebeugt, einander zugetan? Immerhin das.
Ein seltsamer Gedanke kommt mir, während ich weitergehe, um ein Brot zu kaufen. Was passiert eigentlich mit all diesen Worten, Argumenten, Sprüchen? Gehen sie nur ins eine Ohr rein und zum anderen wieder raus? Bleibt etwas hängen? Triggern die Worte ein Gefühl, eine Meinung? Reizen sie zu einer Entgegnung, Zustimmung? Wie wirken sie nach? Zerfallen sie wieder, ohne Wirkung, ohne Folgen? Oder – und das ist der Gedanke, der mich eigentlich beschäftigt – ist dieser eine Satz, vorgetragen mit ausladender Gestik und nachdrücklicher Miene so etwas wie der Flügelschlag jenes berühmten Schmetterlings, das Flattern, das hauchzart in Brasilien passiert und irgendwann irgendwo einen Tornado auslöst, in Texas, wie der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward N. Lorenz sinnierte – eine undurchsichtige Kettenreaktion, unvorhersehbar, nicht linear, nicht nach Art eines Schneeballeffekts, vielleicht nur ein winziger von vielen anderen, ein nur scheinbar harmloser Effekt in der Dynamik des globalen Klimas?
Der Butterfly Effect hat mich als Gedankenspiel früh fasziniert: der filigrane Flügelschlag hier, der todbringende Tornado dort – beides in Beziehung, irgendwie kausal, aber nicht eindeutig nachvollziehbar als Ursache und Wirkung. Was, wenn der „Flügelschlag“ dieses Italieners oder irgendeines anderen Menschen an einem Stammtisch in der Kneipe, die ich gerade passiere, wenn einer dieser kleinen Gedanken andere berührt, in Schwingung versetzt und zusammen mit weiteren Effekten im aufgeheizten sozialen Klima irgendwo endet, als etwas Großes, Mächtiges, Unwiderstehliches? Was, wenn ein winziger Vorwurf von einst einen Krieg in der Zukunft auslöst? Nicht nachvollziehbar, Jahre und Jahrhunderte später. Was, wenn es eben nicht ein großer göttlicher Gedanke ist, sondern ein kleiner schäbiger, ausgesprochen hier draußen, am Bistro-Tisch des italienischen Cafés, nicht unmittelbar folgenreich, nur ein Nano-Teilchen in einem unheilvollen System, aber in der Folge essentiell? Es wäre allein Gott, wenn es ihn gibt, der genau wüsste, dass eben jener Mann besser nicht gesprochen hätte, nicht jetzt und nicht hier, weil ohne ihn alles nicht so gekommen wäre, weil sein Wort nicht zur Tat geworden wäre. Oder nicht die Worte und Taten der vielen anderen Menschen – der Deutschen zumal, die sich mit Hass und Häme auskennen, die vielen fiesen Kommentare, die alles vergiften und verätzen wie die Raupen des Eichenprozessionsspinners, so direkt und brachial, dass sie mit einem Schmetterling nichts, aber auch gar nichts gemein haben können. Oder doch? Wer schützt uns vor dem Butterfly Effect? So ist eben das Leben, oder?
Mit dem Brot unter dem Arm eile ich an dem Café vorbei. Ich senke meinen Blick, halte mir das zugewandte Ohr zu. Ich habe Angst, ich könnte doch noch ein Wort aufschnappen. Ein schlimmes Wort. Dass es ein schönes sein könnte, kann ich nicht glauben – warum sonst ist so wenig Gutes in der Welt?
– Ein Schmetterling ist schön, magst du einwenden.
– Ein Tornado nicht, würde ich entgegnen.
– Butterfly reverse: Etwas Hässliches könnte auch etwas Schönes auslösen.
– Aus der Raupe ein Schmetterling – erstaunlich, ja, aber kein Butterfly Effect …
– Du willst mich nicht verstehen.
– Oder du mich nicht.
– Dann sind wir uns ja einig. Noch einen Caffè?
– Nein, danke, ich habe jetzt Lust auf Farfalle …