Bella Wismar

Reisesplitter IV (Nachtrag)

In Wismar flanieren wir durch eine ruhige, an diesem Vormittag seltsam reservierte Innenstadt. 1991 waren wir zum ersten und bisher einzigen Mal hier, heute nur auf der Durchreise. Wir wollen sehen, ob wir die Stadt, die wir damals so kurz nach der Wende besuchten, heute noch wiedererkennen. Wie viele andere Städte der ehemaligen DDR hat sich auch Wismar sehr gemausert. Wie andere Hansestädte bekam Wismar aber wohl auch weniger von der sozialistischen Gleichgültigkeit gegenüber schmucker, historischer Bausubstanz zu spüren als solche weiter südlich, besonders in der grauen bis verpesteten Einheitsödnis des Arbeiter- und Bauernstaates.
Tatsächlich erkennen wir die Häuserzeile wieder, vor der wir damals draußen saßen, den „Alten Schweden“, das älteste Bürgerhaus der Stadt, die anderen hanseatischen Giebelhäuser, die mich an die in Münster, meiner ehemaligen Heimat, erinnern und die jetzt in der Sonne leuchten. DWenn ich mich richtig erinnere, diente der Marktplatz damals noch als Parkplatz für Autos. Heute zeigt er sich leer und blitzsauber. Putzig, aber auch etwas steril wirken die verschiedenfarbigen Gebäude, die Fußgängerzone, die kleinen Gassen, durch die wir unseren Parkplatz unweit der gotischen Backsteinkirche St. Georgen fanden – neben der Dresdner Frauenkirche das größte Wiederaufbauprojekt Ostdeutschlands.
Wir wissen nicht so recht, wohin. Eines der Schilder weist in Richtung Hafen. Waren wir jemals dort? Oder erinnern wir uns nur an den ähnlichen, aber größeren Hafen von Warnemünde? Heute haben wir jedenfalls keine Zeit für einen Besuch. Und wir haben keine Lust, irgendwo einzukehren. Nichts spricht uns wirklich an. Auch nicht der Italiener, auf den wir zusteuern.
Ein Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose tritt vor die Tür des kleinen Restaurants, das draußen einige wenige Tische hat. Der Mann tritt aber nicht einfach vor die Tür, bleibt auch nicht einfach davor stehen. Er tut es auf eine Weise, die ich schon oft beobachtet habe. Er tut es wie ein Italiener. Sein Blick fällt kurz auf mich. Ein flüchtiges Nicken. Keine Einladung, keine Werbung. Der Mann stemmt die Hände in die Hüften, verlagert sein Gewicht auf das rechte Bein und blickt nach links. Nur einen Wimpernschlag später wechselt er geschmeidig auf sein linkes Bein und blickt nach rechts. Ich folge seinen Blicken, sehe nichts von Interesse. Er wohl auch nicht. Und doch bleibt er auf der Türschwelle stehen, blickt mal nach links, mal nach rechts, nie geradeaus, die Hände immer noch in die Hüften gestemmt, die Hemdsärmel einmal umgeschlagen, ein Mann im Profil, lässig, südländisch. Ist er vielleicht der Besitzer des „Ristorante“?
Ich mag diesen Anblick: Ein Mann steht im Eingang einer Pizzeria, breitbeinig, einen Fuß nach außen, beide Füße wechselnd, wie die Blickrichtungen – Standbein, Spielbein, ein bisschen wie im Fußball. Die EM hat schon begonnen. EM 2020, wegen Corona aber erst in diesem Jahr (2021) ausgetragen, nicht in nur einem Land, sondern verteilt über Stadien in elf Ländern, darunter sogar Rußland und Aserbaidschan. Ich denke zurück an 1980. Fußball-EM in Italien, Endspiel in Rom, Deutschland siegt im Finale gegen Belgien. Hrubesch schießt uns in den Fußball-Himmel, während Italien tags zuvor im Elfmeterschießen gegen die Tschechoslowakei verliert und undankbarer Vierter von den damals nur acht Turniermannschaften wird.
1980 gab es noch den eisernen Vorhang. Ich genoss neue Freiheiten. In jenem Jahr wurde ich 18, hatte endlich den Führerschein, konnte mir den Käfer meines Vaters ausleihen und mit Freunden nach Münster fahren. Ich sehe die Pizzeria in Münster, in der Sonnenstraße, nomen est omen. Im Eingang steht ein Mann: Standbein, Spielbein, Blick nach links, Blick nach rechts. Damals wie heute scheint die Sonne, lässt das Hemd des Italieners blütenweiß strahlen, die Haut wie Bronze, und das schwarze Haar glänzen. Ich rieche den verführerischen Duft aus dem Steinbackofen, schmecke wieder den knusprigen Teig, das Aroma des Belages, Salami, Zwiebeln, Käse – vor allem Käse. Lange ekelte ich mich vor Pizza, fand schon den Anblick abstoßend, assoziierte Erbrochenes damit. Dann probierte ich sie – eben in der Pizzeria Sonnenstraße. Seitdem liebe ich Pizza, obwohl keine andere mehr an meine allererste heranreichen sollte, an die „Pizza Cipolla“ aus dem Steinbackofen in Münster. Mein Magen knurrt.
„Doch was essen?“, fragt meine Liebste.
„Nicht hier“, sage ich und sehe, wie sich der Italiener abwendet und in seinem Ristorante verschwindet.
Wir verlassen Wismar. Ich freue mich auf Münster. Unser nächstes Ziel.

©Martin Bensen