Im Turm

In meinem Turm habe ich eine Rundum-Sicht. Ich blicke vom höchsten Punkt in den Talkessel von Stuttgart, auf die gegenüberliegenden Höhen. Ich stelle mir vor, das da unten sei mein Königreich, die Niederungen des Lebens, über die ich herrsche, ich, der ich eigentlich immer noch nicht glauben kann, in einem solchen Anwesen wohnen zu dürfen – in einer eigenen Burg mit Turm, nur ich allein. Und meine Frau. Meine Frau, die damit hadert …

Auch an diesem Morgen stehe ich wieder oben, blicke auf die winterliche Szenerie, genieße das goldene Licht der aufgehenden Sonne, die nur einmal, noch tief am Horizont, unter der grauen Wolkendecke hervorlugt, und auch nur als Widerschein in einem der Panoramafenster auf der Hügelkette gegenüber. Ob dahinter jemand steht und wie ich hinausblickt, anders als ich direkt in die Strahlen der Morgensonne, geblendet von Licht, das nur uns hier oben zuteil wird, zumindest heute, weil es über der bleiernen Wolkenschicht bleiben wird, aus denen schon jetzt ein paar Flocken fallen? Wie gepudert sieht alles aus. Nur tief unten im Kessel liegt kein Schnee. Er hätte das Grau der Steinwüste etwas aufgehellt.

Wie still alles ist, selbst wenn ich das Fenster öffne, was ich nur kurz aushalte, weil ein frostiger Luftzug mein rundes Arbeitszimmer hier oben schnell auskühlt. Ich kenne die Stadt inzwischen recht gut, auch wenn ich nur ein paarmal dort unten war, die Läden schnell satt hatte, die Baustellen, die vollen Bars und Kneipen abends, als ob es die Pandemie nie gegeben hätte. Jetzt ist alles wieder auf Null, wie das Thermometer. Abends ab acht herrscht Ausgangssperre und die meisten scheinen sich daran zu halten. Nur wenige Scheinwerfer irrlichtern dann durch das Straßengespinst.

Auch an diesem Morgen weist wenig darauf hin, dass die Stadt lebt. Ein lähmender Schleier liegt über dem Land. Wo soll das alles nur hinführen? Ich muss tief einatmen, weil meine Brust eng wird. Sicher, mir geht es gut. Ich bin gesund und my homeoffice is my castle – in meinem Fall stimmt das sogar, doch was machen all die anderen, die weniger gut wohnen, Familien auf engstem Raum, die Kinder, die es nach draußen drängt, zu anderen Kindern, die jungen Menschen, meine beiden Söhne, die in anderen Städten studieren und doch nur zuhause sitzen, vor ihren Rechnern, während ihre Haut verblasst, und mit ihr das Leben, nach dem sie sich so sehr sehnen?

Auf die Straße zur Vorderseite meines Hauses blicke ich selten am Tag, eigentlich nur, wenn ich Post erwarte, ein Paket, weil ich mir jetzt alles schicken lasse. Besuch kommt inzwischen auch nicht mehr. Jeder ist bei sich. Eingeschlossen. Asozial. Was macht das mit einer Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr hat, mit dem Menschen an sich, der nach Aristoteles ein zoon politikon, ist, ein soziales, politisches Wesen, das sich solchermaßen von Tieren (und Göttern) unterscheidet? Wird der Mensch, die Krone der Schöpfung, Opfer dieses fiesen kleinen Erregers, der ebenfalls den Namen Krone tragen darf? Warum nur? Weil das Virus von der Form her an eine Krone oder einen Kranz erinnert? Oder weil es mehr ist als der Mensch, der in Wahrheit doch nur ein Tier ist, ein Hobbescher Wolf? War er das nicht immer …? Zu viele Gedanken an diesem Morgen. Immerhin habe ich meinen Turm. Er gibt mir ein gutes Gefühl, ein erhabenes. Stehe ich hier nicht buchstäblich über den Dingen? Gerade weil es so ist und auch so bleiben soll, habe ich bisher der Versuchung widerstanden, allzu feine Details im Talkessel durch den Feldstecher meines Onkels ausmachen zu wollen. Ich habe das gute Stück in den Keller verbannt, dorthin, wo er mir eine überaus wertvolle Sammlung erlesener Weine hinterlassen hat. Mein Onkel war ein Genießer und immerhin das, beruhige ich mein schlechtes Gewissen, hat er mir zeitlebens sogar voraus gehabt. Aber ich hole auf. Was soll ich auch sonst tun gegen dieses schier endlose Gefangensein?

Das Haus zu erben war ein Glücksfall. Die Umstände, die dazu führten, nicht. Woran mein Onkel starb, ist kein Geheimnis. Er hatte sich infiziert, hatte die Krone im Leib. In seinen eigenen Gemäuern endete sein Leben. Das Zimmer, in dem er verschied, meiden wir. Es ist seither unberührt und verschlossen. Meine Frau schwört Stein und Bein, dass sie nachts Geräusche von dort hört. Ein Stöhnen, wie von großen Qualen – wie sein letzter Atemzug, der keine Erleichterung gewesen sei, sondern ein langgezogenes Wehklagen, das sagen zumindest die Bediensteten, die vor der Tür standen, weil sie da bereits ahnten, an was er litt. Alles sei so schnell gegangen, sagt auch der behandelnde Arzt, man habe ihn nicht mehr ins Krankenhaus bringen können. Auf den Gedanken, mich, den einzigen noch verbliebenen Angehörigen zu verständigen, sei in dem ganzen Durcheinander niemand gekommen. Ich, sein Lieblingsneffe, war auch weit weg, in Berlin, das sich nur zögernd auf den Lockdown einstellen wollte.

Wie sie denn von dort, dem Sterbezimmer, überhaupt etwas hören könne, habe ich meine Frau gefragt, nicht nur einmal, und sie dennoch nicht von diesem fixen Gedanken abbringen können. Das Haus sei verflucht, sagt sie, und dass sie sich das nicht mehr antun wolle, Aussicht hin oder her. Am hellen Tag sei ja alles schön, aber nachts würden wir heimgesucht. Warum mir das nicht in den Kopf wolle? Das Zimmer, in dem mein Onkel starb, liegt im anderen Flügel, weit weg von unserem Schlafzimmer, das wir uns im Turm eingerichtet haben, zwei Etagen unter meinem Arbeitszimmer, das, über eine kleine Wendeltreppe im Zwischengeschoss erreichbar, ganz oben unter dem Spitzdach mit Wetterhahn liegt und schon meinem Onkel als Schaffensstätte diente. Dann arbeite er eben immer noch da oben, sagt meine Frau, schreibe sein Buch weiter, welches unvollendet geblieben ist – sein letzter Schauerroman. Mein Großonkel ist ein bekannter Romanautor, der „deutsche Zafon“, wie die Feuilletons schrieben. Ob sich die beiden jetzt im Jenseits treffen? Selbstverständlich habe ich alles von meinem Onkel gelesen, auch seine Aufsätze, die sich um Okkultismus drehten. Es hieß, er habe darüber geforscht, sei eigens an magische, kultische Orte gefahren, in den Schwarzwald zum Beispiel, doch darüber habe ich nie etwas gelesen. So sehr ich nach unserem Einzug auch suchte, es fand sich nichts, was einer Bibliothek nahekäme, noch irgendwelchen Aufzeichnungen über seine Exkursionen. Von früher weiß ich, dass mein Onkel mit Vorliebe in die Landesbibliothek ging, oft zu Fuß, von ganz oben nach ganz unten – und auch wieder zurück. Nur wenn er müde war vom vielen Lesen und Exzerpieren nahm er die Bahn und die Zacke, die Zahnradbahn, die unweit seines Hauses hält. Unseres Hauses. Aber wie lange noch?

Anders als meine Frau habe ich mich hier sofort eingelebt. Vielleicht steckt doch noch der Schwabe in mir. Geboren bin ich hier. Allerdings sind meine Eltern, Gott hab sie selig, früh nach Berlin gezogen, wie viele andere Schwaben, weshalb ich zwar Schwäbisch verstehe, aber nur Berlinerisch sprechen kann. Meine Frau ist Berliner Schnauze durch und durch, seit Generationen ist ihre Familie in der Hauptstadt zuhause, hat nur irgendwann den preußischen Adel in ihrem Stammbaum verloren, weil ein Vorfahre falsch abgebogen ist. Vielleicht, ziehe ich meine Frau jetzt auf, gefriere blaues Blut schneller in den Adern oder es finde sich tief in ihr noch angstbesetztes Erbgut, man denke ja nur an all die Spukschlösser. Schlösser ohne Geist sind keine. Als ob wir hier in einem Schloss wohnten, ätzt meine Frau zurück. Ein Türmchen mache noch keinen Staat und ich solle bloß nicht überheblich werden, nur weil wir jetzt obenauf wohnen. Droben, dachte ich beseelt, als wir uns eingerichtet hatten und eng beieinander im Arbeitszimmer standen, das meine Frau nicht haben wollte, weil ihr so schnell schwindlig wird. Sie hielt mich umklammert, ist seither vielleicht ein- oder zweimal noch hier oben gewesen. Ihr Reich ist das Wohnzimmer mit der Panoramascheibe, dem Kamin, den sie nicht müde wird zu befeuern, und der kleinen Ecke, nicht zu nah am Fenster, in der sie ihren Arbeitsplatz hat. Ganze Tage lang sehen wir uns nur zum Schlafengehen, beide Workaholics wie schon die Jahre in Berlin. Wir schaffen in der Werbebranche, können von überall arbeiten – sogar von einer einsamen Insel. Nun gut, nicht ganz so einsam – Internet müsste schon sein. Gibt es auf der Welt eigentlich noch einen Flecken ohne Corona? Ist unser neues Zuhause nicht unsere Insel? Ein angemessener Platz für uns Edelfedern. Wir verdienen so viel Geld, dass wir nicht wissen, wohin damit, erst recht jetzt, wo alles dicht ist. Dieses Haus hätten wir auch kaufen können, wenn wir es nicht geerbt hätten. Am Ende scheißt der Teufel doch immer auf den größten Haufen.

Apopos Teufel: Meine Frau setzt mir zu, setzt sich selber zu. Ich verstehe sie nicht mehr. Und ich höre einfach nichts von dem, was sie offenkundig so fertigmacht. Keine Nacht vergehe, in der sie nicht das Stöhnen höre, sagt sie. Wenn der Geist meines Onkels sich doch wenigtens an die Geisterstunde halten würde. Doch nicht um Mitternacht spuke er, sondern die ganze Nacht, an trüben Tagen sogar manchmal morgens. Das hörte ich ja nicht in meinem Elfenbeinturm, klagt meine Frau. Einmal saß sie zitternd an ihrem Arbeitsplatz, als ich mir etwas aus der Küche holen wollte. Da blickte sie mich an wie eine geprügelte Hündin, in ihren Augen blankes Entsetzen. Sie bat mich zu bleiben, doch auch nach einer halben Stunde, in der ich zusehends nervös wurde und endlich wieder an meinen Schreibtisch im Turm wollte, war kein Geräusch zu hören – nur die Stille, diese unfassbar entspannte Stille.

Grabesstille, sagt meine Frau. Wenn schon, dann das. Sie vermisse das Leben in Berlin, die Aufgeregtheit der Großstadt, ja selbst die Polizeisirenen und die Lautsprecherrufe von den nahen Demos. All das sei Leben. Das hier, das sei kein Leben. Der Tod lauere in den Gemäuern, habe sich darin festgesetzt wie Schimmel, der unsere Atemluft vergifte – am Ende auch unsere Seelen verderbe. Oh ja, antworte ich, das scheine mir tatsächlich so zu sein, und mein Onkel selbst vergifte sie, der habe so einen Kram nämlich auch geglaubt. Meine Frau ist wütend. Sie redet nicht mehr mit mir. Ich verstehe sie ja. Aber ich tue doch alles, um ihr Leben in Stuttgart, in diesem unfassbar schönen Haus ganz oben am Hang, so angenehm wie möglich zu machen. Und es ist doch nicht so, dass wir es in Berlin jetzt besser hätten. Auch dort haben alle Läden zu. Auch dort könnten wir uns nicht mit Freunden treffen, jedenfalls nicht mit allen gleichzeitig. Und so viele Freunde haben wir inzwischen gar nicht mehr. Workaholics haben kein Privatleben, Arbeitstiere sind einsam – und hier oben, nun gut: It’s lonely at the top, wie man so schön sagt. Ein Song von Randy Newman, sagt meine Frau. Er treffe ihre Stimmung. Wie ich sie so ignorieren könne. Ob ich nicht sehe, wie unglücklich sie sei.

Draußen klappen Türen. Die Post? Ich wende mich vom Talkessel ab, blicke auf die Straße. Ein Taxi steht da, mit offenem Kofferraum. Der Fahrer nimmt eine Tasche entgegen. Von meiner Frau. Ich hämmere gegen das Fenster. Doch die draußen scheinen das nicht zu hören. Meine Frau steigt in das Taxi, der Fahrer schließt den Kofferraum. Wieder klopfe ich, dass die Scheibe zittert. Zu dieser Seite lässt sich das Fenster nicht öffnen. Kurz überlege ich, ob ich es einschlagen soll, da steigt der Fahrer ein und nur eine Sekunde später fährt das Taxi davon. Ich überlege, wende mich schließlich wieder der Aussicht zu. Bestimmt liegt unten ein Zettel, vielleicht auch ein Brief. Ich kenne den Inhalt. Es ist alles gesagt. Ich weiß Bescheid.

Ein Stöhnen ertönt, lang und anklagend. Ich bin mir nicht sicher, ob das Geräusch aus dem Sterbezimmer kommt. Vielleicht kommt es von hier. Von mir.

©Martin Bensen