Beim Chinesen lasse ich mir Stäbchen geben. Ich möchte, wenn ich Fernöstliches esse, es eben auch auf fernöstliche Art essen. Ich finde, es schmeckt besser. Ich bevorzuge Stäbchen aus Holz. Die aus Kunststoff sind mir zu steril, zu nah an Plastikbesteck. Auch wenn solche Stäbchen hygienischer sein mögen und wiederverwendet werden.
Das Essen ist mundgerecht. Ich überlege, wie Chinesen eine ganze Ente mit Stäbchen essen würden. Würden sie? Nein. Pekingenten-Essen ist eine Zeremonie. Ich habe sie just in Peking erlebt. Zwei Kellner tranchieren aufs Kunstvollste, die gebackenen Enten, legen die mundgerechten Stücke mit Stäbchen akkurat ab, zeigen mir, wie ich sie in Perfektion genießen muss: eingefaltet in kleinen Fladen, zusammen mit einer pikanten Sauce und dünnen Lauchstreifen. Alles ist darauf ausgelegt, die fertigen Fladenpäckchen mit Stäbchen zu greifen und als Ganzes in den Mund zu bugsieren. Maßvoller Genuss, achtsame Lust, entschleunigte Gaumenfreude. Und kein Gemetzel.
Essen in unserer Kultur ist anders. Feiner und individueller in der gehobenen Gastronomie. Ebenso fein, wenn der Fisch in Salzkruste vom Kellner filetiert wird. Aber doch recht grob in zünftigen Lokalen. Dort ist es die Fortsetzung des Gemetzels im Schlachthof. Die Essinstrumente sind ungleich gefährlicher als Stäbchen: spitzzackige Gabeln, scharfe Messer, besonders scharfe für Steaks, kein Holz, sondern kaltes Metall, selbst die Löffel. Chinesen gönnen sich immerhin welche aus Porzellan. Im Westen essen wir mit Waffengewalt, zerlegen totes Getier noch weiter. Halbe Leiber lassen wir uns auftischen. Einen halben Hahn. Noch während er dampft, stechen wir zu, schneiden tief in sein Fleisch, drehen und zertrümmern Knochen und Knorpel, stopfen uns die Stücke hektisch in den Mund, zerkauen sie nur halb, schlingen die Bissen hinunter und bemerken zu spät, dass wir eine viel zu große Menge verzehrt haben. Der Wohlstand großer Portionen. Er tut uns nicht gut. Also einen Schnaps. Oder auch zwei. Oder…
Beim Chinesen passiert mir das nicht. Allenfalls, wenn ich bei der Schärfe nicht aufpasse. Sind die mundgerechten Portionen schon verträglicher, ist es besonders das Essen in Gesellschaft, an Banketten. Hier bremst uns auch das Soziale: die Reden, das Zuprosten mit Schnaps aus Wassergläsern (Ganbej = trocken machen – exen) und das Rotieren der Schalen, aus denen sich alle bedienen. Gleichwohl lässt die soziale Kontrolle durchaus zu, dass wir saugen, schlürfen, schmatzen, ausspucken, was wir an westlichen Festtafeln tunlichst vermeiden. Aber was wiegt schwerer, ganz buchstäblich? Ist nicht das Gesellige schöner, das Gemäßigte gesünder? Das feinfühlige Essen mit Stäbchen?
Auch China schmaust bei Tisch. Essen ist der sinnliche wie gesellschaftliche Mittelpunkt. „Hast du schon gegessen?“ ist in China eine Grußformal. Wie ein „Hallo“ bei uns. Am Tisch herrscht Friede, sind Krieg, Tod und Gemetzel tabu. Jedenfalls dort, wo ich das Vergnügen hatte, Gast zu sein. Was vor und nach einem Mahl passiert, bleibt dem Bankett verborgen. Ich will es auch nicht wissen, will weder die Zutaten genau kennen, noch die Methoden der Haltung und des Schlachtens, die genauso grausam sein mögen wie bei uns. Es interessiert auch die chinesischen Mitesser nicht, die bei Aufhebung der Tafel diese beinahe fluchtartig verlassen. Sofort kommen die Dampfreiniger, emsiges Personal. Sie beseitigen das, was wie ein Schlachtfeld aussieht und eben doch keines war. Vielleicht ragen Stäbchen aus Schüsseln – wie bei uns die bleichen Knochen.
©Martin Bensen