Alltagssplitter: Nur einen Tag

Auf einer Literaturseite wische ich den Artikel Satz für Satz nach oben weg. Geübtes Smartphone-Handling, Routine. Der Artikel ist langweilig, fast verlasse ich die Seite, da erscheinen am unteren Bildrand diese drei magischen Worte: „Nur einen Tag…“ Ein Buchtitel? Klingt interessant. So wie „Zwei an einem Tag“ von David Nicholls, ein Roman, den ich wahrhaftig verschlungen habe, ein Leseerlebnis, das mir noch lange danach auf der Seele lag. Nicht nur, weil das Ende so herausfordernd war. Das ganze Buch ist so intensiv, so gefühlvoll – so schön und so traurig. Und es hat ja nicht nur mich begeistert. Weit mehr als die Verfilmung, auch wenn David das Drehbuch geschrieben und bei den Dreharbeiten mitgearbeitet hat. Ich weiß das, weil David mein Facebook-Buddy ist.

Als ich den Film dann sah, auch nicht schlecht fand, wurde mir ein weiteres Mal klar: Die eigene Phantasie ist kostbarer als jede andere, auch die des Autors, der womöglich so werkgetreu und so weit wie möglich aus eigenem Herzen „seine Story“ umzusetzen bemüht war. Auch er mag ja Kompromisse gemacht haben, seine Vorstellungen nur näherungsweise gespiegelt gesehen haben. Und habe ich das nicht gelernt in meinem Literaturstudium? Ein Werk gehört eben nicht seinem Urheber allein, das will er ja auch gar nicht, denn sobald er es nur einem weiteren Menschen zur Lektüre gibt, es schließlich publiziert, gewinnt es ein Eigenleben. Jede Leserin und jeder Leser erlebt die Story anders, jenachdem wo er ist, was er beim Lesen riecht, schmeckt, um ihn herum sieht und hört – und was er mit Worten und Wendungen verbindet, aus eigener Erfahrung, Wissen, Gefühlen und Interessen. Blitzschnell weben die Rezipienten den Stoff in ihre Welt ein oder ihre Welt in das Gelesene; Bilder entstehen im Kopf, die nicht gänzlich neu kreiert, vielleicht neu zusammengesetzt werden, aus Erinnerungen, nicht nur visuellen, das Neue des Erzählers erregt das Vertraute in einem selbst, rührt auch an anderen Sinneserinnerungen. Je detailreicher die Beschreibung, je ungewöhnlicher und überraschender Plot und Sprache, desto mehr emanzipiert sich das Erzählte von der Welt der Rezipienten und bereichert sie. Dann hebt es sich ab, beginnt zu fliegen, raus aus dem Alltag, dem eigenen Leben. Dann kann es eine Horizonterweiterung, eine Reise werden. Und doch: Ist es nicht so, dass wir auch an fremden Orten oft genug das Vertraute suchen, durchaus unbewusst, nach ähnlichen Landschaften, Straßenzügen, Gerüchen, Menschen… ? Dass wir uns so zwar öffnen für Neues, nie Gesehenes und Erlebtes, aber immer auf einer sicheren Basis unserer bisherigen Erfahrungen und Werte? Vielleicht weniger als junge denn als ältere Menschen? Wie offen bin ich eigentlich noch? Wie vorurteilsverseucht, vorbehaltsbelastet – wie erwartungsvoll oder abgestumpft schon?

Wäre ich letzteres, würde ich dann weiterwischen auf meinem Display? Nein, ich bin zweifellos neugierig. Also wische ich weiter, will wissen, was es mit dem Titel „Nur einen Tag“ auf sich hat. Jetzt kommt ein Bild zum Vorschein. Mit einem Model. Ein kerniger Mann, braungebrannt, offenes Hemd. Die linke Hand liegt an seiner Schulter, hält mit einem Finger ein Sakko auf dem Rücken, die andere berührt den Bügel einer Sonnenbrille. Will er sie gerade abnehmen? Oder hat er sie sich eben erst aufgesetzt? Jedenfalls steht er lässig da. Selbstbewusst. Das Bild zeigt gerade noch seinen Schritt, die weiße Hose, in der sich Potenz wölbt. Ich merke, dass ich neidisch werde. Weniger auf die Wölbung, mehr auf diesen Typen an sich. Ich muss an Dexter denken, „Dex“, den Mann aus „Zwei an einem Tag“, der über weite Strecken der Gewinnertyp ist, während Emma, „Em“, lange Zeit ein Schattendasein führt. Zwei, die nicht zusammenzupassen scheinen, die sich dennoch vom ersten Tag – dem Tag – an lieben, immer wieder begegnen, über viele Jahre hinweg, und erst ein Paar werden, als sich ihre beiden Leben jeweils gedreht haben. Bis hierhin kommt meine Sehnsucht, kommt auch mein Gerechtigkeitsgefühl damit zurecht – doch dann…

Dexter! So wie der Mann auf dem Bild mag er aussehen. In meiner Phantasie jedenfalls. Und von irgendwo in meinem Gedächtnis auch gespeist von einem realen Vorbild, ob im richtigen Leben oder aus einem Film. Der junge Robert Redford fällt mir ein, in diesem Film lange vor „One Day“, dem Originaltitel von „Zwei an einem Tag“. Erst jetzt, wo er mir in den Sinn kommt, erkenne ich Motive wieder. Die Konstellation ist ähnlich – wie hieß dieser Film doch noch? Ich google im Netz, werde gleich fündig: „So wie wir waren“ („The Way We Were“). Ein Liebesfilm mit Robert Redford und Barbra Streisand von 1973. Hubell und Katie heißen die Zwei in dieser Geschichte. Ich habe den Streifen irgendwann in den Achtzigern, als ich selber im Rausch der ersten Liebe war, im Fernsehen gesehen. Und er hat mich berührt, sehr sogar. Vielleicht habe ich ihn Jahre später unbewusst auch ein Stück unter meine Lektüre von „One Day“ geschoben – wie eine Folie. Die Liebesgeschichte von Hubell und Katie ist der von Dexter und Emma tatsächlich nicht unähnlich.

Dexter, Hubell – diese tollen Männer, smart, sportlich, gewinnend, wahrhaft männlich. Erst jetzt sehe ich die fliederfarbene Blase neben diesem geilen Typen auf dem Bild. Und zwei weitere Sonnenbrillen, die neben ihm in der Luft schweben. Die durchgestrichenen Zahlen. Die blauen Zahlen darunter. Es sind Preise, vermeintlich alte und angeblich neue, niedrigere. Für die Sonnenbrillen. Es ist Werbung. Auf meinem Display ist nur eine Anzeige. Ein vermeintlich günstiges Sonnenbrillenangebot. „Nur einen Tag“ gelte es. Nur heute, übersetze ich – und bin raus.

©Martin Bensen