Schattendasein

Eine imaginäre Idylle

Dieser Wurzelzwerg da, in der Bahnhofshalle. Der mit den quer über die Glatze gekämmten grauen Haaren, dem Frettchengesicht und dem Buckel. Der, tief in seinem viel zu großen Mantel versunken, schattengleich schon wieder aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich hab ihn gesehen, kurz nur, aber doch. Mehr noch: Er bleibt mir im Kopf. Dachte wohl, er entwischt mir. Jetzt ist er dran. Pech gehabt, jetzt wird er erzählt. Es geht los: 

In meiner Vorstellung fährt dieser Mann abends in der überfüllten S-Bahn in den Norden der Stadt. Von seiner Haltestelle hat er es nicht weit, er geht zusammen mit dutzenden müden Gestalten auf die Hochhäuser zu, zwischen denen der Wind hindurchbläst, die Menschen anbläst, als wolle er ihre Heimkehr verhindern. Und während sich die Menge mehrmals teilt und immer weiter zerstreut, steuert der krumme Mann auf das höchste Gebäude zu. Dort, hoch droben, wohnt er.

Das Aufschließen der kaputten Haustür, der Blick in den Briefkasten, die Werbeprospekte, die er später alle aufmerksam studiert, der rumpelnde Aufzug zum 17. Stock, der lange Gang mit den verschrammten Böden und Wänden, die billige Tür, der er keinerlei ernsthaften Widerstand zutraut und trotzdem stets verschließt. Die er jetzt entriegelt, nur einen Spalt öffnet, um wieder wie ein flüchtiger Schatten hindurchzuhuschen. Schon schlägt ihm abgestandene Luft entgegen, der vertraute Geruch nach kaltem Kochdunst, nach Zwiebeln, Bratkartoffeln und billigem Schweinefleisch. Nach schalem Bier. Gewiss, alles ist ordentlich in dieser imaginären Zweiraumwohnung, darüber mögen die schäbigen, vom Sperrmüll zusammengeklaubten Möbel vielleicht hinwegtäuschen, der blassblaue Kunststoffboden mit dem ziemlich ramponierten Perserteppich, der seine eigenen, dem Mann immer wieder fremd erscheinenden Aromen preisgibt wie kleine Geheimnisse aus ferner Vergangenheit. Dann stellt sich der imaginäre Mann vor, welche einstigen Geschehnisse zu den heutigen Ausdünstungen geführt haben mochten. Hier meint er noch den Spuckfleck eines Säuglings zu erkennen, dort das Brandloch von glühender Asche, vielleicht einer Zigarre, mitten drin die Lache aus einem vollen Glas Rotwein.

In meiner Vorstellung geht besagter Mann immer dann, wenn er besonders einsam ist, auf die Knie und dann auf alle Viere, um wie ein Hund an den Spuren zu schnüffeln. In solchen Momenten liegt der Teppich plötzlich in einem großen, festlich erleuchteten Wohnzimmer, eine Familie ist hier beisammen: Der Vater wiegt, ein Schlaflied singend, seine kleine Tochter an seiner mit einem Spucktuch bedeckten Schulter durch den Raum, spricht gutgelaunt mit der Mutter, die nebenan das Abendessen bereitet, während der Großvater in einem Ohrensessel eine Flasche seines besten Rotweins öffnet, die er dem jungen Paar als Gastgeschenk mitgebracht hat. Sie feiern etwas, vielleicht einen Geburtstag oder einfach nur, dass sie hier und jetzt so glücklich beisammen sein dürfen. Dann winselt unser Mann, jault auf und stellt sich vor, er sei dabei. Dann sieht er ein Leckerli, sieht wie der alte Mann im Sessel es ihm hinhält. Dann will er danach schnappen, verfehlt den Leckerbissen. Dann bellt er, macht Männchen, dem Großvater und sich zur Freude. Wie gern würde er sich jetzt kraulen lassen, doch immer genau in diesem Moment verschwindet die Szenerie, ist er wieder allein in seiner Zweiraumwohnung.

Nein, so richtig traurig ist er dann nicht, überhaupt denkt und fühlt dieser Mann nicht viel. Er geht zu seinem Röhrenfernseher, schaltet ihn mangels Fernbedienung direkt am Gerät ein, er braucht nur ein Programm, es bringt ihm die weite Welt in seinen Abend, die er auf sich wirken lässt, während er sich behaglich in seinen ranzigen Sessel kuschelt. Wenn ihn eine Sendung packt, vergisst er zu Abend zu essen, was ihm nicht viel ausmacht, denn schon vor Jahren hat er mit seinen Eltern auch seine Lebenslust und jegliche Genussfähigkeit verloren. Nur wenn er bei seiner Arbeit nicht zum Essen kam, was ihm durchaus häufiger passiert, geht er einkaufen, hastig und nur das Nötigste und steht hernach in der Kochnische, um auf den zwei Herdplatten die wenigen Dinge zu kochen, die er kann: Bratkartoffeln, ein Fertigschnitzel, Rührei. Wenn er keine Lust hat zu kochen, reichen ihm auch ein paar belegte Brote. Er isst stets vor dem Fernseher. Kauend. Starrend. Ohne dass er darüber nachdenkt verbindet sich die Welt da draußen mit dem Geschmack seiner Mahlzeit, dann schmeckt der Krieg nach Schnitzel, die tödliche Massenkarambolage nach Bratkartoffeln und all der andere Kram nach Sauerteigbrot, Leberwurst und Gurkenscheiben. Und Bier. Er hat immer eine Flasche im Haus. Oder zwei. Auch mal drei. Trinkt er die alle, döst er schon bald weg. Viel später erwacht er, weil aus dem Fernseher schrille Geräusche kommen, dann verflucht er die in die Nacht abgeschobenen Experimentalfilme, Konzerte oder andere Kulturergüsse und wünscht sich die Zeit zurück, als es noch einen Sendeschluss mit leise rauschendem Schneebild gab.

Dann unterdrückt er den Impuls, den Flimmerkasten mit Füßen zu treten, geht in sein kleines Bad, das man in seinem Plattenbau Nasszelle nennt. Sie ist ihm gerade recht, denn er ist klein, dünn und hässlich, er vermeidet es, seine Körperpflege länger als nötig auszudehnen, und auch, in den Spiegel zu sehen. Wenn er dann endlich auf der muffigen Matratze liegt, schläft er recht bald wieder ein. Nur wenn der Mond ins Zimmer scheint, erfasst ihn eine seltsame Unruhe. Dann hat er Angst, dass etwas geschieht. Mit ihm, dem Haus, der Welt da draußen. Dann wälzt er sich in immer kürzeren Schlafphasen und düsteren Träumen. Dann steht er auf, lange bevor der Wecker klingelt. Und obwohl er erst viel später zur Arbeit muss, sieht man ihn bald in der S-Bahn, im Strom der Frühaufsteher und schließlich in der Bahnhofshalle.

Wenn man ihn denn sehen will.

©Martin Bensen