Schauspiel in fünf Begegnungen
von ©Martin Bensen
„Die ganze Sache ist die, dass die Menschen glauben, es gebe Situationen, in denen man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe; solche Situationen gibt es aber nicht!“
Leo Tolstoi
Begegnung 1
Licht an
Eine einsame Parkbank an einem Sommermorgen, auf ihr liegt ein schlafender junger Mann – modische Frisur, kurzgeschnittener Bart, fleckiges weißes Hemd, Designerjeans, Sneakers – seine Knie sind angewinkelt, dazwischen seine Hände. Vor ihm steht eine leere Wodkaflasche auf dem Boden, überall verstreut liegen Zigarettenstummel. Ein älterer Mann mit silbergrauer Künstlerfrisur, in schwarzem Leinenanzug, schlurft ins Bild, betrachtet den Jungen eine Weile, setzt sich dann auf den schmalen Platz zu seinen Füßen. Er klemmt seine Hände zwischen seine Knie, reibt sie unruhig gegeneinander, beugt seinen Körper vor und schaut ins Leere. Eine ganze Weile. Die Vögel zwitschern, sonst ist noch alles ruhig.
Der Alte:
Ach ja…
Der Junge bewegt sich etwas, grunzt, atmet hörbar aus und versucht sich vergeblich umzudrehen.
Der Alte:
Das habe ich nie gemacht.
Der Junge blinzelt, hebt den Kopf und blickt den Alten, der weiter geradeaus starrt, schlaftrunken an.
Der Junge:
Äh… was?
Der Alte:
Nach einer Fete. Irgendwo hat sich immer ein Bett gefunden. Und meistens war ich darin auch nicht alleine, wenn du weißt, was ich meine. (kichert albern)
Der Junge: (stöhnt)
Komm, Alter! Verschon mich mit deinem Leben.
Der Alte:
Ist ja gut. Du wirst deine Gründe haben. Eigentlich bin ich ja nur neidisch.
Der Junge: (stützt sich jetzt auf seinem Ellbogen und sieht den Alten wütend an)
Ey! Drückst du mir jetzt ein Gespräch rein, oder was? Maaann! Du nervst!
Der Alte (hebt beschwichtigend die Hände):
Ist ja gut, ist ja gut, schlaf weiter, ich bin schon wieder still.
Der Junge richtet sich langsam auf, zupft seine Kleidung zurecht und setzt sich hin. Er spuckt aus.
Der Junge:
Scheiße… Sowas hat mir gerade noch gefehlt.
Etwas ungelenk zieht er aus seiner Hosentasche ein Smartphone, tippt drauf, drückt seitlich, steckt es missmutig wieder weg.
Der Junge:
Fuck, Akku leer. Wie spät isses denn?
Der Alte: (schaut auf seine Armbanduhr)
Oh, noch früh. Gerade mal sieben. Senile Bettflucht, herrje, wie ich diese Floskel hasse.
Der Junge:
Oh Mann, da hab ich locker zwei Stunden gepennt. Bin eingeratzt hier, wollt‘ eigentlich gleich die erste Bahn nehmen. Naja, danke fürs Wecken. Hau rein!
Der Junge macht Anstalten zu gehen, sinkt aber mit einem Griff an den Kopf stöhnend auf die Bank zurück.
Der Alte:
Mal langsam, Junge. Wenn du die Flasche da alleine leer gemacht hast…
Der Junge:
Ach Quatsch! Normalerweise pack ich die locker. Ich glaub, ich werd‘ krank.
Der Alte:
Also, ich hab irgendwann ganz aufgehört. Aber so einen Fusel habe ich nie getrunken. Kam auch nicht gut beim Kiffen… (lacht)
Der Junge:
Jetzt fängt der schon wieder an. Alter, mich interessiert dein Leben nicht! Kriech in dein Loch zurück und lass mich in Ruhe. Tschüss!
Der Junge will erneut aufstehen, fällt wieder zurück und dreht sich zur Seite, um sich zu übergeben, der Alte schaut angewidert weg, bleibt aber sitzen.
Der Junge:
Oh Mann, so’n Scheiß. Aber besser, das Zeug kommt raus.
Er lehnt sich erschöpft zurück, der Alte reicht ihm ein Papiertaschentuch.
Der Alte:
Kenn ich –
Der Junge: (aufbrausend)
– einen Scheiß kennst du! Hallo! Ich bin nicht du, bleib mal schön in dir drin, du… (fasst sich wieder an den Kopf)
Der Alte:
Kein Grund, unhöflich zu werden. Jetzt reicht es mir aber auch. Ich muss mich hier früh morgens nicht anpöbeln lassen. Der Park ist für jeden da. Sei froh, dass nur ich hier sitze und nicht irgendein unfreundlicher Zeitgenosse. So tief wie du da geschlafen hast, hätte man dich mühelos ausrauben können.
Der Junge:
Ach ja? Was denn? Das Handy? Ist eh verranzt. Geld? Hab keins mehr, is auch futsch. Alles draufgegangen heute Nacht… Fuck, hat die mich verarscht…
Der Alte:
Oh… Ach so…
Beide schauen vor sich auf den Boden, jeder in Gedanken versunken. Die Vögel zwitschern. Ein Radfahrer kreuzt die Szene, würdigt die Männer aber keines Blickes.
Der Junge: (die Hand an der Stirn)
Sag mir mal eins, du Supertyp mit der super Lebenserfahrung: Warum sind Frauen so?
Der Alte: (blinzelt irritiert)
Wie – „so“?
Der Junge:
Na, so… hässlich. Und dann wieder so… schön… so halt.
Der Alte:
Oh, ich ahne, was du meinst. Das ist kein Widerspruch. Weißt du –
Der Junge: (wird laut)
– ich hab sie geliebt! Liebe sie immer noch, diese verdammte…
Beide schweigen eine Weile, den Blick niedergeschlagen. Dann wendet sich der Alte an den Jungen.
Der Alte:
Magst du mir erzählen, was passiert ist? Ich hab Zeit, sogar sehr viel davon – viel zu viel…
Der Junge: (zögert, rutscht unruhig auf der Bank hin und her)
Ach, was soll’s. Zuhause ist eh nur mein leeres Zimmer – und die Erinnerungen, ihr Geruch… Fuck!
Ich dachte echt, wir kriegen noch mal die Kurve. Was hab ich mich ins Zeug gelegt, hab alles so schön gemacht für uns, wollte es noch mal reißen. Und hab sie sogar rumgekriegt. Marie wollte mich eigentlich nicht mehr sehen, hat sie mir jedenfalls deutlich gesagt. Es hat keinen Sinn mehr, hat sie gemeint. Da war sie schon weg gewesen, bei dem anderen…
(Pause)
Sie hat jemanden kennen gelernt. Und das sagt die mir ausgerechnet an meinem Geburtstag. Vor zwei Wochen war das. Ich hatte mich schon gewundert, sie kam später als sonst, wirkte so abweisend, nicht mal einen Kuss wollte sie mir geben. Ich wollte schön mit ihr essen gehen, was trinken und danach wieder zu mir, aber ich Idiot frage sie gleich mal, was denn los ist. Sie fängt an zu heulen, sagt, sie weiß ja auch nicht warum. Und dann kommt sie damit raus. Ich steh da wie gelähmt, mir wird ganz anders, voll der Tunnelblick. Sie heult weiter, will mich in den Arm nehmen, doch das ging nicht. Ich hab sie weggestoßen, hab sie angeschrien, wollte wissen, was passiert ist, mit wem und so weiter. Und dass wir uns doch lieben, habe ich geschrien…
Die letzten Worte des Jungen ersticken in Tränen, er stützt seinen Kopf, die Hände vor der Stirn, die Ellbogen auf den Knien, weint leise, die Schultern beben leicht. Der Alte reicht ihm ein weiteres Papiertaschentuch, was der Junge aber ignoriert. Der Alte legt es neben den Jungen auf die Bank, schweigt und schaut nachdenklich zu Boden. Nach einer Weile fasst sich der Junge wieder, nimmt das Taschentuch, schnäuzt hinein und zerknüllt es mit Kraft.
Der Junge:
Scheiße! (wirft die Papierkugel weg) Fünf Jahre sind wir zusammen – waren wir zusammen. Fünf verfickte… schöne Jahre. Sie ist die Frau meines Lebens, immer noch. Gestern Abend hab ich sie endlich wieder gesehen, hab ihr gesagt, dass ich alles machen würde, Hauptsache sie bleibt bei mir. Ich hab sogar gedacht, was interessiert mich ihr Neuer, soll sie ihn doch treffen, wenn sie mich doch nur auch noch trifft und ich bei ihr sein kann. Andererseits…
Ey, ich bin so eine Wurst. Hab mich vor ihr in den Staub geworfen, sie angebettelt. Und sie? Hat nur gelacht, okay, da hatten wir schon etliche Shots gehabt, hat mich getätschelt und nebenher verstohlen auf ihr Handy geguckt. Dachte wohl, das krieg ich nicht mit. Da bin ich ausgerastet, hab ihr Handy gegrabscht und einem ins Bier geworfen, was mir auch sofort leid tat.
Ihren Blick werde ich nie vergessen, gar nicht wütend, nur traurig. Ich will sie gleich umarmen, mich entschuldigen, doch sie stößt mich weg, geht zum Thekennachbarn und gießt mir sein Bier über den Kopf. Hebt ihr nasses Handy auf und ist weg. Der Jugo mit dem Bier gibt mir ne Kopfnuss, ich denke, er will sich schlagen, doch er schaut mich nur mitleidig an und bestellt’n neues Getränk. Der Barmann hatte wohl Bescheid gesagt, jedenfalls stehen auf einmal die zwei Türpfosten neben mir und wollen, dass ich die Bar verlasse. Vorher aber noch zahlen, sagt der hinter der Theke. Ich drück meine letzten Scheine ab, kriege gerade noch so viel raus, dass ich mir ne Flasche Wodka leisten kann.
Tja, that’s it. Jetzt sitz ich hier.
Schweigen – beide schauen vor sich hin, lassen die Erzählung wirken. Der Alte schüttelt leicht den Kopf.
Der Alte:
Scheiße das … Entschuldigung. Aber was soll ich sagen? „Kenn ich“? Dann springst du mir an die Gurgel. „Opa erzählt vom Krieg“, ja ja … Aber weißt du, so alt ich für dich sein mag, da drin (klopft sich mit der Faust an die Brust) schlägt ein Herz, das noch genauso leidet, das trauert, das so empfindsam ist wie bei der ersten Liebe. Es mag mehr Narben haben als deines, deswegen ist es aber nicht härter. Eher verletztlicher. Rein physisch natürlich viel näher am Stillstand als deines. Vielleicht habe ich über die Zeit gelernt, besser mit Enttäuschungen und Verlust umzugehen – ja, die Zeit… sie wird auch dir helfen, selbst wenn du es jetzt noch nicht annehmen magst.
Der Junge: (lauter werdend, affektiert)
Ja, ja, die Zeit heilt alle Wunden, andere Mütter haben auch schöne Töchter. Blablabla! Ich will nur die eine, ich will verdammt noch mal Marie zurück! Verstehen Sie? Marie, Marie, Marie!
Der Alte:
Ist ja gut, beruhige dich, Junge. Und tu mir den Gefallen: Lass uns beim Du bleiben. (Schweigen)
Noch ein altkluger Spruch: Liebe lässt sich nun mal nicht erzwingen. Aber es stimmt und das weißt du auch. Trotzdem: Solange du lebst, kannst du lieben und das ist das Wertvollste überhaupt, das Kostbarste, das ein Mensch einem anderen geben kann. Und es wird wieder eine geben, die sie annimmt. Lieben ist eine wahrhaft göttliche Gabe, lass nicht zu, dass sie verliert. Liebe, trauere, nimm die Enttäuschung an, liebe! Nur weil dich deine Freundin verlassen hat und jetzt einen anderen liebt, bist du kein schlechterer Mensch als vorher oder gar als er. Hüte dich zu vergleichen, dir vorzustellen, was er an deiner Stelle tut, du tust dir nur selber weh.
Der Junge: (weinerlich)
Das pack ich aber nicht, echt jetzt. Wer ist denn hier das Opfer? Das bin ja wohl ich. So ein Opfer bin ich, ich fass es nicht. (kickt einen Stein weg)
Der Alte:
Menschen ändern sich, ebenso ihre Gefühle. Liebe lässt sich nicht in die Karten schauen, sie lässt sich weder mit Vernunft begründen, noch einfach mit Sinnlichkeit überlisten. Beide heben sich in ihr auf, ohne Absicht, selbstvergessen und ohne jeden Zweck. Wie also soll dir deine Freundin erklären, was mit ihr geschieht und warum sie ihn jetzt liebt und dich vielleicht nur noch mag? Sie weiß es doch selber nicht. Dass sie es einfach nur fühlt, den anderen von ganzem Herzen will, tut dir natürlich weh. Tja, auch meine Worte tun dir wohl weh, aber sie sind dennoch wahr…
Der Junge:
Scheiße, scheiße, scheiße…
Der Junge sitzt in sich zusammengesunken auf der Bank, reibt sich verzweifelt mit den Fäusten übers Haar. Der Alte betrachtet den Jungen nachdenklich.
Der Alte:
Mir hat das Schreiben geholfen – schreibst du?
Der Junge: (schaut auf)
Ha! Ganz schlechter Punkt! Ihr Neuer ist „Hobbydichter“, Germanistikstudent, hat sie mit Schmonzetten oder Sonetten oder was-weiß-ich-wie-das-heißt beeindruckt, ich könnte kotzen. Ich hab nix übrig für den Scheiß. Wenn ich lebe, dann lebe ich, dann will ich meine Zeit nicht damit vergeuden, darüber zu schreiben. Immer war ich für sie da, hundertprozentig. Ich hab andere Qualitäten. Aber die sind jetzt wohl nicht mehr gefragt…
Der Alte:
Tut mir leid, wenn ich das sagen muss, aber auch ich bin Germanist, sogar Schriftsteller. Ich lebe davon. Mein Name tut nichts zur Sache und er wird dir wahrscheinlich auch nichts sagen.
Der Junge schaut den Alten mit einer Mischung aus Erstaunen und Befremden an.
Der Junge:
Krass! Alter… oh Mann. Hab mich schon gewundert. So schön klugscheißen kann echt nur’n Dichter. Bin mir nicht sicher, ob ich alles kapiert hab, aber is auch egal.
Der Alte:
Es ist nicht egal. Was ich dir sagen möchte, und das ist mir wichtig: Lebe dein Leben, halte deine Fähigkeit zu lieben hoch, leide ruhig wie ein Hund, geh da durch, es kommen wieder bessere Tage. Rache und Hass jedoch sind schlechte Ratgeber, sie sind aus der menschlichen Natur heraus verständlich, eine Wirkung aus Verletzung, Enttäuschung, Zurücksetzung, aber sie vergiften dich auch, lassen dich nur vordergründig groß und mächtig erscheinen und werden dir nur anfangs Genugtuung geben. So schnell wie solche Gefühle aufflammen, so schnell verrauchen sie, verbrennen werden sie aber auch dich. Dann gibt es kein Entrinnen mehr und am Ende hast du auch dich selbst zerstört.
Der Junge:
Oh, ich glaube, da schätzen Sie… schätzt du mich falsch ein. Ich mag kein Dichter sein, aber ein Depp bin ich auch nicht.
Der Alte:
Um Himmels Willen nein! Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Natürlich kenne ich dich nicht, aber ich sehe doch, wie du leidest. Und ich habe es leider selbst so erlebt. Willst du es hören?
Der Junge:
Wegen mir… (lehnt sich zurück, schaut etwas gequält nach oben)
Der Alte:
Als ich meine erste Liebe an einen anderen verlor – ja auch mir erging es vor einem halben Jahrhundert so wie dir jetzt – war ich außer mir, am liebsten hätte ich meinen Konkurrenten zum Duell gefordert. Ja, ich wäre sogar für sie gestorben, heldenhaft, in einem Kampf Mann gegen Mann, eine Niederlage wäre mein Triumph und ihre ewige Schuld gewesen, so fühlte ich damals. Dann habe ich vor seinem Haus gelungert, habe mir unzählige Dinge ausgemalt, die ich ihm antun würde. Wie in einem billigen Roman erwischte mich meine Freundin inflagranti, stellte mich zur Rede. Ich habe geweint, mich erniedrigt, sie auf Knien angefleht, zu mir zurück zu kommen. Aber wie konnte ich in einer solchen Situation noch gewinnen. Nur eines hat sie mir mehr als deutlich vor Augen geführt: Wenn es überhaupt noch einen Weg zum Herzen dieser Frau gab, dann mit Sicherheit nicht der von Hass oder Eifersucht. So bitter es war, ich musste sie loslassen. Ein letzter Akt der großen Liebe, die ich bis heute tief in mir bewahrt habe. Aber nur so konnte ich mich befreien, mich reinen Herzens einem neuen Menschen hingeben.
Und das wirst auch du wieder.
Der Junge:
Mag sein. Aber es tut einfach so weh. Wie kann ich sie je vergessen? Ich liebe sie doch…
Der Alte:
Wer sagt denn, dass du sie vergessen sollst? Was ich doch sage: Liebe sie weiter in deinem Herzen, lass deine Seele um sie trauern. Akzeptiere den Verlust, das, was ihr hattet, kann dir niemand mehr nehmen. Und das hast du dem anderen voraus. Du warst zuerst da, Junge, und wirst immer ihr erster sein. Ja, es stimmt, es ist beinahe so, als wäre sie für dich gestorben. Du hast einen wichtigen, den wichtigsten Menschen in deinem Leben, verloren. Punkt.
Der Junge:
Sagt sich so leicht, wenn man es nicht selber fühlt…
Der Alte:
Glaub mir, mein Junge, ich weiß noch zu gut, wie es sich anfühlt.
Der Junge:
Und Sie… äh du… hast du dann alles aufgeschrieben? Dir deinen Schmerz von der Seele geschrieben?
Der Alte:
Und wie! Wenn du jemals Goethes „Werther“ gelesen hast –
Der Junge:
Laaangweilig! Das war sooo öde in der Schule. Und es hörte gar nicht mehr auf mit dem Geheule. (lacht)
Der Alte:
Ja, Schule kann grausam sein. Und sicher habt ihr Jungs da noch nichts mit Liebe am Hut gehabt, habt eher versaute Witze darüber gerissen.
Trotzdem – lies ihn jetzt noch einmal. Mach es! Ich verspreche dir, er wird dir in einem ganz neuen Licht erscheinen. So manche Formulierung – oder wie sagt ihr Jungen so schön: so manches an dem „Wording“ des Romans – mag uns heute fremd erscheinen. Doch die Geschichte ist ewig jung, sie passiert in dieser Sekunde tausendfach auf dieser Erde, denn sie handelt immer nur von der einen großen Liebe, von Leidenschaft im wahrsten und doppelten Wortsinn – bis in den Tod, auch das geschieht bis heute.
Nun gut, so weit wirst du es nicht kommen lassen, das sehe ich.
Trotz all dieser Widernisse bleibt immer die eine Idee: die Liebe selbst ist unsterblich.
Der Junge:
Mh, schöne Worte, Herr Dichter. Aber du hast ja nicht nur gelesen, du hast geschrieben, hast du gesagt.
Der Alte:
Ja, habe ich. Später. Aber etwas, das niemals an den „Werther“ heranreichen kann. Dennoch hat es mir geholfen. Und ganz offenbar war das therapeutische Stückchen so dicht und intensiv geraten, dass meine Freunde mir den Roman, es war ebenfalls ein Briefroman, aus der Hand rissen. Sie ermunterten mich, ihn einem Verlag zu schicken. Was soll ich sagen, er wurde ein Riesenerfolg. Nicht wenige verglichen das Buch tatsächlich mit dem „Werther“, sahen darin einen kongenialen, modernen Epigonen, nun ja… Du kannst ja mal googeln. Doch vorher tu mir den Gefallen: Lies das Original!
Der Junge blickt nachdenklich zu Boden. Wind rauscht durch die Bäume, von weiter weg sind Kinderstimmen zu hören, Verkehrsgeräusche werden lauter, das erwachende Leben einer Großstadt an einem geschäftigen Samstagmorgen.
Der Junge:
Irgendwo auf dem Dachboden müsste das Reclam-Heftchen noch vor sich hin gammeln. Hoffentlich kann ich vor lauter Kritzelei noch was lesen.
Aber danke! Vor allem fürs Zuhören… Ich mach mich mal auf den Weg, geht mir schon besser jetzt.
Der Junge hat sich erhoben, der Alte lächelt ihn milde an.
Der Alte:
Freut mich zu hören. Es mag seltsam anmuten, aber jetzt sag ich es dir doch: Ich beneide dich. Jetzt und hier. Wie gerne wäre ich jetzt du. Ich glaube, das verstehst du jetzt. Wenn du nach Hause gehst, kümmere dich um dein Leben, denk an meine Worte, aber mach dir keine Gedanken über den alten Mann auf der Parkbank. Er wird hier noch eine Weile sitzen, der reinen Liebe lauschen und in seinen Erinnerungen wandeln. Sie werden ein Stück weit lebendig werden, mit dem Duft der Blüten in seine Nase steigen, mit dem Gesang der Vögel süß in seinen Ohren klingen und mit den Sonnenstrahlen und einer leichten Brise warm über seine Haut streichen… Es war genau so ein schöner Sommertag, als ich mich das erste Mal unsterblich verliebte. Natürlich verklärt sich die erste Liebe über die Jahre, macht sie zu etwas Heiligem, etwas Unvergleichlichem, ja Unerreichbarem. Aber was ist schlimm daran, wenn die Fähigkeit zu lieben bleibt, die Liebe selbst ewig währt? Und doch neide ich dir jetzt deine waidwunde Leidenschaft, was würde ich mich in ihr festkrallen, mit welcher Wollust würde ich bluten, mit dieser heißen, klebrigen Tinte immer und immer wieder über die Liebe schreiben, auf Papier, nein auf Pergament, auf meine frische Haut. Die reine Liebe, die in allem waltet…
Der Alte ist in Fahrt gekommen, gestikuliert wild, während der Junge etwas verschämt dasteht, beide Hände in den Taschen seiner Jeans. Dann lässt der Alte jäh seine Arme sinken, fällt er in sich zusammen.
Der Alte: (mit leiser Stimme)
Ach, wie mir das alles fehlt. Jeden Tag bin ich unruhig, ich schlafe immer weniger, etwas tief in mir will immer noch raus, sich ausdrücken, Liebe geben. Doch was kann ich noch ausrichten? Wenn ich schon nicht ruhiger werde, was meinem Körper sicher zuträglicher wäre, dann will ich wenigstens noch lieben, noch leiden, schreiben… (hustet trocken) Aber es geht nicht mehr, es ist verflixt. Ein romantisches Herz und eine ewig junge Seele – in einem alten, unansehnlichen Körper.
Jetzt erhebt sich auch der Alte, geht auf den Jungen zu, reicht ihm die Hand. Der Junge drückt sie kurz und fest.
Der Alte:
Hat mich gefreut.
Der Junge:
Ohne Witz – mich auch.
Der Alte:
Du wirst deinen Weg machen.
Der Junge:
Und wieder lieben, ja ja. Du auch, alter Mann. Einer wie du wird ewig jung bleiben. Wer weiß, vielleicht versuche ich ja doch mal, was aufzuschreiben. Als Kind habe ich immerhin mal Tagebuch geführt. Für ne Woche oder so… (lacht)
Der Alte:
Es würde mich freuen. Und ich würde gerne von dir lesen.
Der Junge:
Na, na, mal abwarten. Du würdest auf jeden Fall der Erste sein. Obwohl… Ich hab jetzt schon einen Heidenrespekt vor dir. (lacht, dann ernster:)
Vielen Dank für alles! Danke, dass du an mich glaubst.
Unvermittelt tritt der Junge auf den Alten zu und umarmt ihn. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Der Junge reißt sich los und geht schnellen Schrittes ab. Der Alte steht noch eine Weile da, schaut dem Jungen nach und schüttelt milde lächelnd den Kopf. Eine junge Frau betritt die Szene, sie zieht einen Handwagen. Sie nickt dem Alten freundlich zu, ist fast an ihm vorbei, als sie unvermittelt anhält. Sie dreht sich um, zieht eine rote Rose aus dem Wägelchen und gibt sie dem Alten. Dann tritt sie lächelnd ab. Der Mann schaut ihr nach, erst erstaunt, dann immer breiter grinsend, die Rose genießerisch unter der Nase, die Augen schließend…
Licht aus
Begegnung 2
Licht an
Auf der linken Seite der Parkbank sitzt der Alte und schläft. Sein Kopf hängt nach vorn, bis fast auf die Brust. Die Hände liegen auf dem Schoß, halten noch die Rose, deren Blüte schräg nach unten zeigt. Es ist ruhig, ein Radfahrer kreuzt die Szene, wenig später zwei ältere Frauen, die nur kurz inne halten, den Alten ansehen und dann ängstlich schneller weitergehen. Nach einer Weile betritt ein dickbäuchiger Herr in mittlerem Alter mit schwarzem Aktenkoffer die Szene, er geht auf den Alten zu, horcht, nickt und setzt sich ans andere Ende der Bank. Der Mann hat schütteres, mit Pomade zur Seite gekämmtes Haar, er trägt eine altmodische, klobige Brille, ein beiges kariertes Sakko und eine etwas hellere Stoffhose, dazu braune Budapester Schuhe. Den Aktenkoffer hat er neben sich auf die Bank gestellt, er stützt seinen rechten Ellbogen darauf und liest konzentriert auf seinem Smartphone, das er aus der linken Brusttasche gefingert hat. Wie er so dasitzt, wirkt der Mann feist und zufrieden. Während er liest, atmet er laut, beinahe asthmatisch, und schmatzt zwischendurch.
Der prägnante Signalton eines Messengers erklingt, der Alte schreckt hoch.
Der Alte:
Oh, guten Tag…
Der Mann:
Tach, der Herr!
Der Alte:
Verzeihen Sie bitte meine Nachlässigkeit, ich muss eingenickt sein. Sicher kein angenehmer Anblick bei meinem Alter.
Der Mann:
Naja, für einen kurzen Moment konnte man denken… Aber alles in Ordnung. Jedem das Seine, sag ich immer. Und jeder wie er kann haha. (lacht etwas dreckig)
Der Alte:
Das ist mir durchaus peinlich.
Der Mann macht eine wegwerfende Handbewegung, tippt etwas in sein Smartphone, dann liest er wieder, wischt mit seinem Daumen über das Display. Der Alte richtet sich etwas und schnuppert genussvoll an seiner Rose.
Der Mann (schaut auf):
Oha! Freut sich da jemand auf sein Schäferstündchen? Alte Liebe rostet nicht, was? (lacht leicht ordinär) Naja. Schön, schön. Wenn unsereins doch nur die Zeit für so etwas hätte. Nun ja, Sie werden es sich wohl verdient haben. Bei mir dauert es noch ein paar Jährchen. Und ob ich dann noch genug Rente habe, dass ich so entspannt im Park sitzen kann, bezweifel ich doch mal stark.
Der Alte:
Nun, im Park zu sitzen, kostet ja nichts – und es belästigt auch niemanden. Mal abgesehen von dem bisschen Platz, den ich gerade beanspruche.
Der Mann:
Da mögen Sie recht haben, guter Mann. Ich trau denen da oben alles zu. Die machen uns arm. Aber reinlassen tun sie alle, verschleudern unser Geld, das woanders dringend gebraucht wird. Schauen Sie doch mal rüber: Sehen Sie die Sippe da drüben auf der Wiese? Die lungern hier seit Tagen – ach was sag ich: seit Wochen lungern die da rum. Mit Mann und Maus. Arbeiten tun DIE nicht. Aber Hand aufhalten können sie, auch beim Amt, da kennen die sich aus. Die reinsten Tagediebe, diese Rumänen! Und benehmen tun die sich wie die Schweine. Ach, schlimmer noch. Werden auch noch frech, wenn man was sagt! Kommen Sie denen bloß nicht zu nahe, diese Zigeuner haben immer ein Messer dabei, in nullkommanix steckt es zwischen ihren Rippen. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Da drüben ist gleich die Schule, das älteste Gymnasium der Stadt. Eine Schande ist das! Die Kinder tun mir leid – Eltern und Lehrer weniger. Können ja nur Gutmenschen sein, wenn die das zulassen.
Der Alte: (mit ruhiger Stimme)
Haben Sie Kinder?
Der Mann: (räuspert sich)
Einen Sohn. Aber er ist schon aus dem Gröbsten raus. Studiert Jura in München. Ein klasse Junge. Der hat Mumm. Ist ne richtige Sportskanone – ganz der Vater. Gestatten übrigens: Wolf-Dieter Müller – Müller mit Ü, kleiner Scherz haha. Wenn Sie mal einen Rechtsanwalt brauchen…
Der Alte:
In meinem Alter? Wer soll denn von mir noch was wollen?
Der Mann:
Sagen Sie das nicht. Vor kurzem hatte ich einen Mandanten, der ging schon, mit Verlaub, auf die Neunzig zu. Den haben ein paar Maximalpigmentierte ausrauben wollen. Haben Sie nicht geschafft. Dabei hatten sie ihn zu Boden gerissen und sogar verletzt. Doch sie haben die Rechnung ohne den deutschen Rentner gemacht. Der hat sie nachher alle wiedererkannt. Ist echt ne Marke. Hat im Krieg noch gekämpft, als sich viele schon ergeben hatten. Erzählt das auch voller Stolz. Ein bewundernswerter Kerl. Hält sich bis heute fit. (sieht an sich herunter) Müsste ich eigentlich auch mal wieder… Naja, aber Zeit ist Geld – auch am Wochenende.
Der Alte:
Und irgendwann, wenn die Zeit zur Neige geht, merkt man, dass Geld nicht alles ist im Leben. Genau genommen, ist nichts so unwichtig, nichts so zerstörerisch, wie Geld.
Der Mann:
Dann hatten Sie wohl immer genug davon, oder wie? Ich sage Ihnen eins: Meine Eltern hatten nichts. Wollten, dass ich ne Lehre mache. Bin dann weg von Zuhause. Aber hätte ich im Studium nicht nebenher gearbeitet, stünde ich nicht da, wo ich jetzt bin. Zu gerne hätte ich noch meinen Doktor gemacht, aber da war Julius, mein Sohn, schon unterwegs, da zählten halt andere Dinge. Ihn kann ich heute unterstützen. Dabei will er das gar nicht, sagt er. Insgeheim ist er aber glaub ganz froh, der Herr Sohnemann. Und Mutti kann sich auch noch was Schönes kaufen. Ach herrje, jetzt sag ich schon wieder „Mutti“. Die Staatsratsvorsitzende meine ich natürlich nicht, diese Verräterin… (spuckt aus)
Der Mann steckt das Smartphone ein, mit dem in der Hand er die ganze Zeit gestikuliert hat, und öffnet seinen Koffer einen Spalt breit. Er holt eine Bäckertüte und eine kleine Flasche Mineralwasser hervor, stellt sie neben sich ab.
Der Mann:
Tut mir leid, dass ich Ihnen jetzt hier was voresse. (Der Alte winkt ab.) Aber leider hat meine Kneipe gerade zu, wo ich sonst immer Mittagspause mache. Ecki hat einfach den besten Schweinebraten und immer ein kühles Helles. Jetzt muss er pausieren – die Pumpe. Liegt immer noch im Krankenhaus, der Arme. Hoffentlich kommt er wieder auf die Beine, sind ja sonst nur noch Asiaten und Dönerbuden überall. Und vegetarisch esse ich garantiert nicht. Wenigstens gibt es den Metzger noch, aber der verkauft den Imbiss nur auf die Hand. Naja, notfalls geht das auch mal.
Der Mann packt ein Brötchen aus, das mit einer dicken Scheibe Fleischkäse belegt ist und beißt herzhaft hinein. Weil er keine Serviette findet, wischt er sich das Fett mit der Handfläche vom Kinn. Der Alte lächelt nachsichtig.
Der Alte:
Dort drüben am Springbrunnen können Sie sich gleich sicher die Hände waschen.
Der Mann: (kauend)
Sicher nicht! (Ein Fetzen fliegt aus seinem Mund.) Da badet das Kroppzeug seine Füße drin. Können gerne noch davon saufen und sich die Pest holen. Aber wahrscheinlich sind die ihrem Land ganz anderes gewohnt. (beißt wütend ins Brötchen)
Der Alte:
Es gab eine Zeit, da lechzte ich nach sauberem Wasser. Als ich fünf war, hatte ich tagelang Durst, trank aus zweifelhaften Quellen, wurde krank und wäre fast gestorben. Den Hunger spürte ich damals schon gar nicht mehr. Meine Mutter war mit mir auf der Flucht, drei Monate nach Kriegsende. Sagt Ihnen „Aussig“ etwas? Oder ihrem schlauen Gerät?
Der Mann hat während der Rede des Alten aufgehört zu essen und den Kopf nachdenklich gesenkt. Jetzt steckt er den Rest des Brötchens in die Tüte zurück, nimmt die Wasserflasche und reicht sie dem Alten. Der lächelt bitter, macht eine ablehnende Handbewegung. Der Mann öffnet die Plastikflasche, kippt sich etwas Wasser über seine Hände und trinkt zwei, drei Schlücke. Dann verstaut er alles wieder in seinem Aktenkoffer und zückt sein Smartphone. Eine Weile tippt und wischt er, während der Alte an seiner Rose schnuppert.
Der Mann:
Ach, Sie sind Sudetendeutscher? Ja, auch die traf es hart. Schlimme Zeiten waren das. Am Ende haben alle gelitten. Wie sehr, das wollten mir meine Großeltern nie erzählen. Aber dann haben ja alle mit angepackt und Deutschland wieder hochgebracht. Sogar die Wiedervereinigung haben wir verkraftet. Sagen Sie selbst: Sollen wir Jüngeren jetzt zuschauen, wie die Errungenschaften unserer Großväter und Väter mit Füßen getreten werden, wie dieses schöne Land von unfähigen Politikern zu Schanden regiert wird? Flüchtlinge damals und heute lassen sich doch gar nicht vergleichen. Sie und Ihre Mutter waren schon Deutsche, haben unser Land wieder mit aufgebaut. Die, die heute kommen, wollen es zerstören. Jeden Tag bei Gericht seh ich das Elend. Glauben Sie, unter den Prüglern, Messerstechern und Sexualstraftätern ist auch nur ein Deutscher? Na gut, vielleicht einer unter hundert, mehr nicht. Ich hab’s so satt!
Der Alte:
Ja, ich gebe Ihnen recht. Jetzt sind Sie dran. Ihre Generation muss es richten, sie hat die Verantwortung, ob in der Wirtschaft oder in der Politik. Mir entziehen sich die Zusammenhänge, je älter ich werde. Und bald ist es an der Zeit, endgültig abzutreten. Aber schauen Sie: Eines ist wirklich wichtig im Leben, bedeutender als alles Geld, alle Macht – es ist die Liebe. Wo sie siegt, siegt der Mensch. Da ist er Mensch. Gerade erst habe ich es einem jungen Mann ans Herz gelegt: Lassen Sie nicht zu, dass der Hass alles zerstört.
Der Mann:
Also bei aller Liebe, guter Mann! Sie sprechen mit dem Falschen. Es sind doch die verantwortungslosen Politiker in Berlin und Brüssel, die alles kaputt machen. Sie sind es doch, die ihr Volk nicht lieben. Wenn ich mir das so angucke, denk ich sogar, sie hassen uns. Die machen doch erst möglich, dass das braune Gesindel und die Flachpfeifen von rechts wieder stark werden. Das wollen wir mal ganz klar festhalten. Das Dumme ist nur: Das Volk fühlt sich zunehmend verschaukelt, es glaubt denen nicht mehr, auch die ganzen Medien kann man doch seit dem Bärchen-Märchen 2015 in der Pfeife rauchen. Was glauben Sie, warum ich mich nur noch im Netz informiere. Da findet man Fakten, die Sie gar nicht kennen, weil man sie Ihnen vorenthält.
Der Alte: (seufzt)
Deshalb habe ich immer von der Liebe geschrieben. Mithin von der Liebe zur Wahrheit. Als Schriftsteller – gestatten Sie, dass auch ich mich vorstelle: Roman Nepomuk Hanusch – gerade als Schriftsteller habe ich viel für meine Romane recherchiert, habe in unzähligen Archiven gestöbert. Und wissen Sie, was ich immer wieder gefunden habe: Die großen menschlichen Tragödien kreisen nur vordergründig um Macht, Patriotismus und Kriege, doch in ihrem Kern ist es immer die Liebe, die dem Menschen und seinen Taten Größe und Wahrhaftigkeit verleiht. Wird die Liebe aber aus dem Herzen verbannt, siegt die Unmenschlichkeit und führt zu Elend und Chaos. Die Liebe allein macht uns menschlich im besten humanistischen Sinne. Schade nur, dass sie gerade wieder mit Füßen getreten wird, dass sie geopfert wird – für was eigentlich?
Der Mann:
Schriftsteller sind Sie, soso… Schriftsteller sind Schwärmer! Und Schmarotzer! Menschen wie Sie haben noch nie zum Wohlstand beigetragen. Haben immer nur auf Kosten anderer gelebt, billig Kritik geübt und viele dieser „Künstler“ schützen die jetzt auch noch.
Der Alte:
Und wer sind „die“? Menschen, die bei uns Schutz suchen?
Der Mann:
Die allermeisten suchen doch keinen Schutz. Auch so ein Träumchen von euch Gutmenschen. Wacht doch mal auf! Gut leben wollen die bei uns. Alles nehmen, aber nichts geben – und schon gar nicht unseren Regeln gehorchen.
Der Alte:
Kennen Sie überhaupt einen dieser Menschen? Ich meine, so richtig? Haben Sie je auch nur einem geholfen?
Der Mann:
Muss ich das? Die kriegen doch alles hinten reingeschoben. Der Staat gibt Milliarden dafür aus. Geld, das woanders fehlt. Und was geben die uns dafür zurück? Das sehen Sie dann in den Amtsgerichten. Aber das hatten wir ja schon.
Der Alte:
Die Menschen, die ich kennengelernt habe, sind allesamt dankbar. Natürlich sind viele verstört, auch traumatisiert. Wenn solche Menschen auch noch kaserniert und sich selbst überlassen werden, ist das nicht nur kontraproduktiv, sondern auch zutiefst unmenschlich. Sie werden es mir nicht glauben, aber alle, die ich kenne, haben Heimweh oder wollen zu ihren Familien zurück, die sie in ihrer bedrängten Heimat zurücklassen mussten.
Der Mann:
Quatsch mit Soße! Der Witz ist doch: Die, die schon da sind, wollen ihre Sippschaft auch noch herholen! Das packen wir nicht. Das müssen selbst Sie zugeben. Aber was red‘ ich mir hier den Mund fusselig…
Der Mann erhebt sich schwerfällig von der Bank. Irritiert tut es ihm der Alte gleich. Er fasst sich an seine linke Brust. Für einen kurzen Augenblick erstarren beide Männer.
Der Mann: (unsicher)
Sie werden mir doch hier nicht noch…
Dann greift der Alte in die Innentasche seines Jacketts, entnimmt ihr ein Bild und zeigt es dem Mann. Der weicht etwas zurück, schaut es sich aber trotzdem an.
Der Alte:
Ein Bild aus Kriegstagen mit meinem Vater, ich kannte ihn nur von Fotos. Bis er eines Tages vor unserer Tür stand. Oder vielmehr ein Schatten seiner selbst. Nach Jahren russischer Kriegsgefangenschaft war sämtliche Liebe aus diesem einst frohgemuten Mann gewichen. Ich hielt es zuhause kaum aus, seine Kälte nicht und sein eisernes Schweigen. Nur des Nachts schrie er im Schlaf. Aber diese Schreie hatten nichts Menschliches. Eines Tages brach mein Vater zusammen und starb wenig später mit einer einzigen bitteren Träne im Auge. Er hat nicht mehr bereuen können. Später, als auch meine Mutter verstorben war, erfuhr ich, nicht zuletzt dank meiner Recherchen, dass er zu einem Kommando gehört hatte, das zahllose unschuldige Menschen – Frauen, Kinder, selbst Säuglinge – erschießen und auch noch zusehen musste, wie diese armen Geschöpfe verscharrt wurden, viele von ihnen noch bei lebendigem Leib. Diese Fotografie mit den Kameraden vor der Grube hatte mein Vater wohl versteckt, sie kam zu Tage, als ich unsere Wohnung räumen musste. Das Bild ist nur ein stummes Zeugnis dessen, was Menschen anderen Menschen antun können – so wie die Filmdokumente, die immer wieder im Fernsehen laufen. Ich trage es seither ständig bei mir. Als Mahnung an mich selbst. Aber ich bin mir sicher, mein Vater hat seine, die realen Bilder, nie auch nur einen Augenblick lang vergessen, hat die Schreie bis zuletzt gehört – die Toten haben ihn bis in seinen Tod verfolgt.
Der Mann hat den Koffer hoch genommen und hält ihn mit beiden Händen wie ein Schutzschild an den Bauch gepresst. Er wirkt unschlüssig, geht aber nicht. Der Alte steckt das Bild wieder ein und wendet sich zum Gehen. Dann dreht er sich noch einmal um.
Der Alte: (erregt)
Aber wissen Sie, was mich heute schmerzt? Dass ich meine Stimme nicht erhebe gegen den grassierenden Zynismus. Dagegen, dass nicht wenige meinen, so herzzerreißende Bilder wie das des toten kleinen Jungen am Strand seien „zweckmäßig“, als Abschreckung gegen weitere Zuwanderung. Dagegen, dass Menschen in einem neuen Massengrab enden, direkt vor unserer Haustür, im Mittelmeer, da, wo wir Urlaub machen. Dem Krieg gerade noch entronnen, sterben sie auf ihrer verzweifelten Flucht vor diesem. Nein, wir stehen nicht mehr mit dem Gewehr an diesem neuen Massengrab, wir sind keine Täter im juristischen Sinne, werden Sie sagen. Allenfalls kann man uns eine Art kollektiver unterlassener Hilfeleistung vorwerfen oder was meinen Sie? Denn wir lassen ja zu, dass es geschieht – erleichtert, dass wir in unserem ach so schönen Land möglichst nicht belästigt werden. Wir wollen doch nur unsere Ruhe haben und „die“ sollen einfach weg bleiben. Ihr Schicksal ist uns egal.
Der Mann: (kopfschüttelnd, lässt den Koffer sinken, gestikuliert in der Folge immer heftiger)
Armer alter Trottel… Jetzt gehen Sie aber echt zu weit! Sie verstehen wirklich nicht mehr, was gerade abgeht. Für Sie gibt es nur Schwarz und Weiß, was? Die Gutmenschen und selbst ernannten „Retter“ sind selbst für den Tod der Afrikaner verantwortlich. Sie befeuern doch das Geschäft der Schleuser und laden die auch noch ein. Wollen immer noch mehr von denen. Was wir von Muttis Goldstücken erwarten können, sehen wir dann ja: Unsere tollen neuen Facharbeiter oder die vielen anderen Ausländer, die passen sich nicht an, nein, die lachen sich über unseren laschen Staat kaputt. Zu Recht, denn unsere Weichei-Richter belohnen die ja noch mit milden Urteilen. Das geht alles auf unsere Knochen. Wir können doch in unserer eigenen Heimat nicht mehr sicher sein. Dass unsere Landsleute durch diese Eindringlinge gemeuchelt werden, ist doch ein Skandal. Sie (zeigt mit dem Finger auf den Alten) tragen daran eine Mitschuld! Wer sind Sie denn, dass Sie mir ein schlechtes Gewissen machen wollen? Glauben Sie mir: Immer mehr Leute denken so wie ich. Zum Glück! Hoffentlich ist es nicht zu spät, wenn endlich eine Regierung am Ruder ist, die das Volk versteht, es beschützt und in seinem Sinne handelt.
Der Alte: (resigniert)
Das werde ich, so Gott will, hoffentlich nicht mehr erleben. Ich wünsche Ihnen dennoch Glück. Und ich hoffe für Sie, dass Sie trotz all Ihrer Wut die Liebe wiederfinden. Leben Sie wohl!
Der Alte schlurft langsam aus der Szene, mit gesenktem Kopf, die Rose lässt er jetzt nachlässig in einer Hand hängen.
Von der anderen Seite kommen zwei uniformierte, mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten in die Szene und wenden sich an den Mann. Der ältere Beamte spricht ihn an.
Polizist 1:
Gibt es hier ein Problem? Wir haben Sie beobachtet.
Der Mann:
Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Der alte Mann dort ist offenbar verwirrt. Und latent aggressiv ist er auch. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet. Um den sollten Sie sich vielleicht mal kümmern.
Die Polizisten verabschieden sich stumm mit einem Griff an ihre Dienstmütze und gehen in die andere Richtung ab. Der Mann lächelt kurz, wird nachdenklich und lässt sich auf die Bank sacken. Dann bearbeitet er wieder sein Smartphone.
Licht aus
Begegnung 3
Licht an
Der Mann kaut auf dem letzten Bissen seines Imbisses, knüllt die Tüte zusammen und leert die Mineralwasserflasche. Dann rülpst er kurz und wirft das Papier und die Flasche in den Mülleimer rechts, unweit der Parkbank. Kaum dass er zurück zur Bank geht, auf dem noch sein Aktenkoffer steht, kommt ein älterer Mann mit abgewetztem Mantel in die Szene. Er sieht verwahrlost aus, trägt einen speckigen Lederhut und um die Schulter eine große blaue Kunststofftüte mit gelber Aufschrift. Zielstrebig geht er auf den Mülleimer zu, schiebt sich einen Ärmel hoch, greift hinein und zieht die Plastikflasche heraus, die er in seiner Tüte verschwinden lässt.
Der Mann:
Ja, nimm nur. Armer Kerl. Dir nehmen die ja auch alles weg. Ach, komm, hier hast du zwei Euro. Aber nicht versaufen, hörst du!
Der verwahrloste Mann zögert erst, dann dreht er sich um und geht auf den Mann an der Bank zu. Der hat seinen Geldbeutel aus der hinteren Gesäßtasche geholt, darin vergeblich nach einer Münze gesucht und schließlich seufzend einen Fünfer herausgezogen. Jetzt schaut er hoch, sieht den verwahrlosten Mann genauer an und erschrickt.
Der Mann: (empört)
Sie sind doch… Sind Sie etwa auch einer von den Zigeunern da drüben? So siehst du aus. Deutscher bist du jedenfalls nicht!
Der Verwahrloste: (zuckt mit den Schultern)
Ich nix…
Der Mann:
Ja, ja, du nix verstehn. Ich schon! (steckt den Schein samt Geldbeutel wieder weg)
Der Verwahrloste: (bedröppelt)
Danke… Thank you… It’s okay… (dreht sich um und geht)
Der Mann:
Ja, hau ab! Am besten dahin, wo du herkommst. Und nimm die anderen Brüder gleich mit. Drecksgesindel…
Gerade als der Mann seinen Aktenkoffer von der Bank nehmen und gehen will, stolpert ihm eine Joggerin entgegen. Reaktionsschnell lässt der Mann seinen Koffer fallen und fängt die Frau auf.
Der Mann:
Hoppla! Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz außer Atem. Kommen Sie, setzen Sie sich hier mal hin. So ist gut. Legen Sie die Beine am besten hoch. Ganz ruhig weiteratmen. Warten Sie, ich besorge Ihnen einen Schluck Wasser, meine Flasche ist leider leer. Brauchen Sie einen Arzt?
Die Frau winkt ab. Sie hat sich der Länge nach auf der Bank ausgestreckt und keucht noch immer. Der Mann steht etwas hilflos vor ihr und stellt verlegen, aber ohne die Frau aus den Augen zu lassen, seinen Koffer ganz ans Ende der Bank.
Der Mann:
Schön regelmäßig atmen. Ich besorge Ihnen wirklich gerne was.
Die Frau: (schon ruhiger)
Nicht nötig… Alles gut… Geht schon wieder.
Der Mann:
Da bin ich aber beruhigt. Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Leider bin ich kein Arzt und mein Erste-Hilfe-Kurs ist schon Lichtjahre her. Da weiß man gar nicht, was man tun soll.
Die dunkelhaarige Frau, eine schlanke, agile Mittdreißigerin, rückt sich ihr weißes Stirnband zurecht und richtet sich wieder auf. Sie trägt helle Sportsachen und pinkfarbene Joggingschuhe, atmet jetzt wieder ganz ruhig.
Die Frau:
Normalerweise lasse ich es langsamer angehen, doch heute hatte ich irgendwie die Hummeln. War so in Gedanken, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie schnell ich unterwegs war. Und die Plastikflasche da vorne hab ich dann einfach übersehen. (Lacht) Hätten Sie auch nicht gedacht, dass heute noch eine Frau auf sie fliegt, was? Wollen Sie sich nicht setzen?
Der Mann:
Danke. Gerade wollte ich gehen, aber auf den Schrecken… Oh, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ähm, nein, nein. Oh Gott, natürlich meine ich nicht Sie. Sie sind ja alles andere als…
Die Frau: (lacht lauthals)
Schrecklich? Sie sind mir ja ne Marke! Ich lach mich tot! Eine Schreckschraube bin ich, was? Ein Schreckgespenst vielleicht… Huiiiii…. Buh!
Während die Frau weiter lacht, sitzt der Mann etwas hilflos neben ihr auf der Bank und blickt verschämt zu Boden. Langsam ebbt ihr Lachen ab, dann rückt die Frau etwas näher und legt versöhnlich ihre Hand auf seinen Unterarm.
Die Frau:
Tut mir leid. Ich bin wirklich schrecklich. (Gluckst noch einmal.) Ich weiß doch, wie sie es gemeint haben. Passiert Ihnen sicher auch nicht jeden Tag. (Sie nimmt ihre Hand von seinem Arm und streckt ihre rechte Hand aus.) Darf ich mich vorstellen. Ich heiße Gesa – Gesa von Zedlitz.
Der Mann: (drückt ihre Hand)
Freut mich. Wolf-Dieter Müller. Ohne „Von“, aber mit „Ü“, haha. Ich bin Rechtsanwalt, hab eine kleine, aber feine Kanzlei hier ganz in der Nähe. Irgendwo müsste ich doch…
Die Frau:
Nein, lassen Sie Ihre Karte stecken. Ich kann die doch nirgendwo einstecken, sehen Sie?
Der Mann:
Ach so, ja natürlich.
Beide müssen kurz lachen, dann entsteht eine Pause, in der sie jeweils in eine andere Richtung blicken.
Die Frau:
Schade, dass Sie kein Arzt sind. Mit Rechtsanwälten kenne ich mich leider nur allzu gut aus.
Der Mann:
Ihr Mann?
Die Frau:
Oh nein, ich bin zum Glück ungebunden.
Der Mann:
Oh…
Die Frau:
Das muss Ihnen nicht leid tun. Ich genieße meine Freiheit. Bin einfach kein Typ für eine Ehe oder gar Familie. Freunde sind dagegen was Tolles. Aber auch anstrengend. Leider muss ich in letzter Zeit so viele trösten. Da gehen reihenweise Ehen in die Brüche. Leid tut es mir vor allem um die Kinder. Ich könnte langsam wirklich ne Beratungspraxis aufmachen.
Der Mann:
Dann sind Sie also Psychologin? Therapeutin?
Die Frau: (lacht)
Um Himmels willen, nein! Ich gebe zu, dass ich das mal studieren wollte. Heute bin ich froh, dass ich auf meinen Vater, dem alten Herrn von Adel ohne Tadel, gehört habe. Na, und was habe ich studiert? – Genau!
Der Mann:
Sie machen es aber spannend!
Die Frau:
Kommen Sie echt nicht drauf? Ich bin Juristin! War auch mal Anwältin, wie Sie. Hab mich dann aber umorientiert und auf Wirtschaftsrecht spezialisiert. Ich arbeite in einer international tätigen Sozietät in Frankfurt, wir beraten Unternehmen im globalen Markt, Sie verstehen? Gerade besuche ich meine Eltern, die hier ganz in der Nähe ein Sommerhaus besitzen.
Der Mann:
Wirtschaftsrecht mach ich auch. Manchmal, aber eher Strafrecht. Sie haben da bestimmt große Fische an der Angel, nehme ich an.
Die Frau:
Reden wir nicht drüber. Unterhalten wir uns doch lieber über das schöne Wetter. Ist das nicht ein Super-Sommer dieses Jahr?
Der Mann:
Um ehrlich zu sein, interessiert mich gerade weniger das Wetter als vielmehr Sie. Wenn ich schon, mit Verlaub, diesen attraktiven Fang gemacht habe. Passiert mir wirklich nicht jeden Tag.
Die Frau: (schmunzelt)
Na, an Ihren Komplimenten müssen Sie noch arbeiten. Wohl etwas aus der Übung, was? Machen Sie sich nichts draus. Seien Sie froh, dass wir uns hier ganz easy privat begegnen und gleich wieder jeder seiner Wege geht. Beruflich wäre das nicht so einfach, glauben Sie mir.
Der Mann:
Jetzt bin ich aber gespannt. Dass Sie nicht nur schön, sondern auch erfolgreich sind, glaube ich Ihnen blind. Sie sind eine besondere Frau, das sehe ich.
Die Frau:
Schon besser. Das nehme ich mal so.
Der Mann:
Darf ich ehrlich sein? Wie kann eine so schöne Frau wie Sie ein so schmutziges Geschäft betreiben?
Die Frau:
Und schon isses wieder vergiftet. (aufbrausend) Also wirklich! Wissen Sie denn, wo und wie ich arbeite? Unsere Sozietät hat in den vergangenen Jahren viele Arbeitsplätze gerettet, aber ich muss mich vor Ihnen sicher nicht rechtfertigen.
Der Mann:
Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich hab da halt eine klare Meinung. Wer hätte gedacht, dass ich auf einer Parkbank einer echten Heuschrecke begegne.
Die Frau hat den Ansatz aufzustehen, lässt sich aber zurückfallen und wendet sich aufgebracht dem Mann zu, der vor ihr etwas zurückweicht.
Die Frau:
Soso! Und Sie? Ganz der Rechtsanwalt, was? Rächer von Witwen und Waisen, auch selber nur ein kleiner Mann, das Herz am rechten Fleck. Ich kenne Ihre Zunft. Habe mir meine Sporen bei einem Anwalt wie Ihnen verdient. Es brauchte nicht viel, um zu erkennen, dass auch Ihre Sorte über Leichen geht. Sie arbeiten unter dem Radar, mit kleinen, aber nicht minder fiesen Tricks als die großen Kanzleien. Und wenn Sie Ihrer Pflicht nachkommen müssen, spielen Sie Ihre ganze Macht aus.
Der Mann:
Wie bitte? Jetzt werden Sie mal nicht frech! Das muss ich mir nicht bieten lassen!
Der Mann will aufstehen, doch die Frau macht eine besänftigende Handbewegung.
Die Frau:
Ok, ok, sorry, Sie haben recht. Ich kenne Sie nicht, darf also nicht einfach über Sie befinden. Eigentlich hasse ich Vorurteile, aber an dem Punkt bin ich einfach empfindlich. Wollen Sie hören, warum?
Der Mann setzt sich wieder auf die Bank zurück und hört der Frau, wenn auch deutlich reservierter, zu.
Die Frau:
Mein damaliger Chef hat mir zunächst eine Pflichtverteidigung gegeben. Als ich vor dem schüchternen jungen Mann saß, hatte ich Mitleid. So zart sah er aus, in seinen Augen lag keinerlei Argwohn. Sein libanesischer Dolmetscher übersetzte mir seine Geschichte.
Der Mann:
Wusste ich es doch. Einer von Muttis Facharbeitern. Libanesen sind die Schlimmsten.
Die Frau: (fährt unbeirrt fort)
Demnach war er schuldlos in eine Drogenrazzia geraten. Er sei als Passant vorbeigekommen, als die Einsatzkräfte den Platz stürmten und auch ihn festnahmen. Bei der sofortigen Leibesvisitation fanden sie einen Beutel Kokain in seiner Hose. Ich glaubte ihm, dass ihm das Zeug in letzter Sekunde untergeschoben worden war. Darauf baute ich meine Verteidigung auf. Zum Glück trafen wir auf einen milden Richter. Ein Jahr später bekam ich einen Brief, abgestempelt im Libanon und weitergeleitet aus meiner damaligen Kanzlei. Dieser junge Mann hatte mir doch tatsächlich einen Dankesgruß geschickt, auf Deutsch, auf der Rückseite eines Fotos, das ihn glücklich Arm in Arm mit einer jungen Frau zeigt.
Der Mann:
Wenigstens ist er zurück in sein Land. Sollten alle machen, dann wär mal Ruhe.
Die Frau:
Mir kamen die Tränen über das Glück dieser beiden jungen Menschen. Der Gruß hatte aber auch was Bitteres. Angefügt war ein libanesischer Spruch, ich weiß ihn immer noch, denn er ist weise und in anderer Form ist er mir später auch in meinen Management-Coachings begegnet. Der Spruch geht so: „Wer Frieden zu stiften versucht, erhält zwei Drittel der Prügel.“
Der Mann wiegt den Kopf hin und her, hört mit skeptischem Gesichtsausdruck weiter zu, ohne die Frau anzusehen.
Die Frau:
In meiner Kanzlei ließ die Prügel jedenfalls nicht lange auf sich warten. Wutschnaubend hielt mir der Chef das Urteil unter die Nase. Ein Weichei sei ich, zu zart für den Beruf, und ich solle jetzt mal lernen, wie man sowas macht. Dann knallte er mir einen Stoß Akten auf den Tisch, allesamt aus dem Archiv. Nachdem ich drei von ihnen durchgelesen hatte, wurde mir das Muster klar: Pflichtverteidigung als Waffe gegen den eigenen Mandanten. Aber warum?
Der Mann:
Das kann ich Ihnen sagen: Weil die Richter zu milde urteilen. Welcher Jurist, der nur einen Hauch von gesundem Rechtsempfinden hat, kann sowas gutheißen? Ihr Chef war halt ein rechtschaffender Mann. Er hat da, wo er konnte, dem Recht gedient und zwar „im Namen des Volkes“, denn er hat mit ziemlicher Sicherheit weitere, womöglich schlimmere Straftaten verhindert.
Der Frau: (schaut ihn befremdet an)
Na, da bin ich ja an den Richtigen geraten. So wie ich damals gleich gekündigt habe, werde ich hier jetzt auch mal schleunigst verschwinden. Danke, dass Sie mich aufgefangen haben. Oder nein – ich ziehe meinen Dank zurück. Vielleicht wäre ich besser gefallen und Ihnen nie begegnet.
Die Frau will aufstehen, doch der Mann versucht sie reflexhaft aufzuhalten, indem er nach ihrem Oberarm greift.
Der Mann:
So warten Sie doch!
Die Frau: (zieht ihren Arm weg)
Lassen Sie mich los! Ich schreie! Sie wissen, was dann passiert.
Der Mann zuckt zurück, sein Gesicht bekommt einen unsicheren, fast ängstlichen Ausdruck.
Die Frau: (eindringlich)
Ich könnte Sie hier und jetzt fertig machen. Sie würden alles verlieren. Ist Ihnen das klar?
Der Mann: (stammelt)
Bitte! Bitte entschuldigen Sie… Ich bin nicht so… Das müssen Sie mir glauben… Bitte glauben Sie mir!
Die Frau: (hart)
Ach was?! Glauben soll ich Ihnen? So wie Sie Ihren Pflichtmandanten?
Der Mann: (weinerlich)
Aber… Aber das ist doch ganz was anderes. Bitte beruhigen Sie sich doch. Mir können Sie ja alles vorwerfen. Aber ich habe eine Frau und einen Sohn. Die haben doch nichts damit zu tun. Es tut mir wirklich leid, bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an! Unter Anwälten sozusagen.
Die Frau: (steht auf und blickt auf den Mann herab)
Pah, Anwalt! Es ist fast eine Genugtuung, Sie so zu sehen. Leute wie Sie sind das Letzte. Sie pfeifen auf den Rechtsstaat, zimmern sich ihre eigene kleine Welt und was da nicht reinpasst, muss weg. Nix „in dubio pro reo“, Ihr Vorurteil ist schon das Urteil. Anders als Sie es mal gelernt haben, erheben Sie sich über andere Menschen, urteilen über deren Leben und zerstören es. Wie viel Leid daran hängt, verdrängen Sie ganz schnell. Am Stammtisch, lässt man Sie dafür hochleben, nicht wahr? Mein Ex-Chef, Sie und all die anderen, Sie sind doch die wahren Heuschrecken. Sie fressen die Freiheit und die Vernunft. Ihr Geschäft ist die Angst. Ich kann nur hoffen, dass sich Geschichte nicht wiederholt.
Die Frau geht mit ihren letzten Worten zügig ab. Der steht auf, macht eine hilflose Geste und schreit der Frau unversehens hinterher.
Der Mann:
Ja, gehen Sie nur! Hauen Sie doch ab! (dann leiser, für sich) Wirst schon noch sehen, was du davon hast! Du verdammte Heuschrecke. Du, nicht ich…
Aus der anderen Richtung kommen die zwei Polizisten zurück und bauen sich vor dem Mann auf der Bank auf.
Polizist 1:
Sie schon wieder! Haben Sie die Frau belästigt? Ihren Ausweis bitte!
Polizist 2: (ruft in Richtung der Frau)
Hallo Sie! Ja, Sie! Würden Sie bitte noch einmal herkommen?
Licht aus
Begegnung 4
Licht an
Die Szene zeigt die Parkbank mit einer Menschenmenge dahinter. Davor stehen die Frau, der Mann (mit Aktenkoffer in der linken Hand) und die zwei Polizisten. Um sie herum haben sich etliche neugierige Parkbesucher versammelt. Die Vier schreien durcheinander, gestikulieren. Am meisten der dicke Mann, er hat einen hochroten Kopf. Jetzt löst er sich aus dem Pulk und kommt nach vorne zum Bühnenrand mit dem Blick zum Publikum, das Geschrei verstummt, alle aus der Gruppe schauen zu ihm.
Der Mann: (schwer atmend)
Da legt man sich krumm. Hilft, wo man kann. Und jetzt das! Nein, das ist nicht mehr mein Land.
Die Menge: (in absteigender Tonfolge)
Ohhh…
Der Mann:
Hier regieren die Falschen, jawohl! Und wisst ihr was? Sie regieren gegen euch.
Die Menge:
Ahhh…
Der Mann:
Hier zählt der einfache Bürger nichts mehr. Im Gegenteil: Hier werden unbescholtene, aufrechte Bürger an den Pranger gestellt, werden mundtot gemacht.
Die Menge:
Hört, hört!
Der Verwahrloste betritt die Szene, zeigt auf den Mann, der ihn überrascht ansieht.
Der Verwahrloste:
Das! (gestikuliert wild) Das da! Das böse Mann! Bad! Very bad!
Der zweite, jüngere Polizist tritt aus der Gruppe, auf den Verwahrlosten zu.
Polizist 2: (energisch)
Gehen Sie! Haben Sie verstanden? Go!
Er verscheucht ihn wie ein lästiges Tier, die Hand am Schlagstock, der ältere Polizist bedeutet ihm, ruhig zu bleiben. Der Verwahrloste wehrt mit den Händen ab und geht. Die Menge ist verstummt, schaut nur zu. Der Mann am Bühnenrand lächelt dünn und hebt den rechten Finger.
Der Mann:
Na? Was hab ich gesagt? Muss man sich das bieten lassen? Im eigenen Land? Von Leuten, die hier keiner will! Wer sind denn die wahren Übeltäter?
Die Menge:
Ja, wer denn? Wer denn? (Lacher)
Der Mann:
Macht euch nur lustig. Ich sehe sie jeden Tag. Die landen alle vor Gericht.
Die Menge:
Hört, hört!
Der Mann:
Und das Schlimmste ist: DIE lässt man in Ruhe! Lässt man einfachen machen. Die kommen einfach davon.
Die Menge:
Das kommt davon, kommt davon… (Lacher)
Der Mann: (schreit)
Und DIE da! (zeigt mit dem rechten Arm nach hinten, dreht den Kopf zur Menge) Ja, ihr! Ihr habt ja wohl den Schuss nicht gehört! Oder was?
Die Menge:
Du hast’n Schuss! … Peng, peng! (Lacher)
Der Mann:
Ja, lacht nur! Das Lachen wird euch noch vergehen. Glaubt ihr wirklich, was euch Mutti und ihre Lakaien, die Medien, erzählen? Seid ihr so blöd oder tut ihr nur so?
In der Menge an der Parkbank entsteht Unmut. Worte wie „Dumpfbacke„, „Flachwichser“ und „Nazi“ fallen. Letzteres hört der Mann am Bühnenrand.
Der Mann: (dreht sich vollends zur Menge, schreit jetzt)
Ach ja? Und was seid ihr? Dumme Schafe seid ihr!
Die Menge:
Mäh, mäh… (Lacher)
Der Mann:
Da! (stellt den Koffer ab, schleudert den linken Arm in die Richtung, in die der Verwahrloste gegangen ist)
Die Menge:
Da, da, da… (Lacher)
Der Mann: (wütend)
Da sind eure Schlächter! Das Gesocks da. Die spucken auf euch und ihr lasst sie!
Die Menge:
Nazi, Nazi, Nazi…
Der Mann:
Die kacken den Park voll und ihr lasst sie!
Die Menge:
… raus, raus, raus!
Der Mann:
Die belästigen eure Töchter und ihr lasst sie!
Die Menge:
Und du hasst sie, hasst sie…
Der Mann:
Und die?
Die Menge:
Di, di, dideldum!
Der Mann:
Die laaacheeeen! Jawohl! Die lachen über euch! Über die dummen Deutschen, lachen die! Schaut doch rüber!
Die Menge verstummt. Von weiter hinten kommen rhythmische Trommelgeräusche.
Der Mann:
Hört ihr’s? Die Bimbos blasen euch den Marsch! Haha, ich könnt‘ mich beömmeln. Abgeschafft! Abgeschafft werdet ihr! (lacht böse) Ach, was red‘ ich: Ihr seid schon abgeschafft. Ihr habt es nur noch nicht gemerkt. Haha, wie dumm! Und wisst ihr, wie wir das nennen? Um-vol-kung! Umvolkung, hört ihr? Hallo?! Jemand zuhause?!
Der Mann tippt sich heftig mit dem Finger an die Stirn, weicht aber etwas zur Seite, ein ängstlicher Zug huscht über sein Gesicht, weil Bewegung in die Menge gekommen ist. Die beiden Polizisten halten einige davon ab, den Mann anzugreifen. Der Mann greift nach seinem Koffer und hält ihn mit beiden Händen vor der Brust. Protest wird laut. Ein Pfiff ertönt und sorgt augenblicklich für Ruhe. Während die Menge und der Mann am Bühnenrand erstarren, löst sich die Frau im Jogginganzug aus dem Pulk und tritt, jetzt unbehelligt von den beiden Beamten, auf den Bühnenrand zu. Sie hat die Hände zu Fäusten geballt, hält Abstand zu dem Mann, sieht ihn aber direkt an. Dieser erwidert ihren Blick, wirkt nun aber etwas verunsichert.
Die Frau: (leicht zitternd, aber mit ruhiger Stimme)
Sie glauben gar nicht, was mir alles auf der Zunge liegt. Aber keine Sorge, den Gefallen tu ich Ihnen nicht, denn auf Ihr Niveau will ich nicht sinken. Sie und Ihresgleichen brauchen die Opferrolle, nicht wahr? Immer so, wie es passt, nicht wahr? Aber selber austeilen! Und wie! Sie sind es, die hetzen. Angst verbreiten – und (spuckend) Fake News. Hauptsache Unruhe, was? Das, was Sie machen, ist Terror! Terror an der Menschlichkeit! Sie sind es, die dem Volk schaden!
Die Menge:
Richtig! … Bravo! (vereinzelter Beifall)
Die Frau:
Sie machen Deutschland kaputt, unsere Werte, unsere Demokratie. Sie machen mich wütend, ja. Aber Sie machen mich auch unendlich traurig.
Stille
Die Frau:
Wenn schon Leute wie Sie – Bildungsbürger, ja sogar Jurist – wieder so sind… so… geschichtsvergessen: Wie viele (verächtlich) „Wutbürger“ schließen sich Ihrer rechten Propaganda an? Ich fürchte, immer mehr. DAS ist dann nicht mehr MEIN Land!
Sie starrt den Mann an, dann senkt sie den Kopf, wirkt erschöpft. Aus der größtenteils Beifall klatschenden Menge ertönt eine bellende Männerstimme.
„Aber meins!“
Ein Fußballfan mit Deutschland-Trikot, -Schal und -Hut tritt hervor. Er hat eine Bierdose in der Hand.
Fußballfan: (hebt die Dose und legt die andere Hand an die Brust)
Das ist dann wieder mein Land, jawoll!
(zum Publikum, auf den Mann zeigend)
Der Mann hat doch recht. Und wenn er Anwalt ist, umso besser. Solche Leute braucht es jetzt wieder.
Die Menge: (singend)
Ihr könnt nach Hause gehn!
Fußballfan:
Ach, hört doch auf. Ihr denkt, ihr seid was Besseres! Aber nicht mehr lange, das sag ich euch! Wir werden immer mehr. Demnächst ist Wahl, da werdet ihr sehen, was mit euch Gutmenschen passiert.
Die Menge: (schwächer)
Schlechtmensch! Schlechtmensch! (Räuspern)
Fußballfan:
Na und? Die Leute glauben euch nicht mehr. Sie wissen genau, was hier alles schief läuft. Nach und nach erwachen sie.
Die Menge wird ruhiger, bis sie ganz verstummt.
Fußballfan: (verächtlich)
Werte! Dass ich nicht lache! Welche Werte denn? Zeit, dass das hier aufhört. Und das wird es. Glaubt mir, das wird es!
Betretenes Schweigen aller Beteiligten, der Mann am Bühnenrand lächelt breit und wippt triumphierend mit den Füßen.
Fußballfan:
Ach, was red ich? Jetzt gehen wir erstmal siegen. Oder hab ihr auch was gegen Fußball? Prost, ihr Luschen!
Der Fußballfan prostet der Gruppe zu, trinkt einen Schluck und schickt sich an, die Szene zu verlassen. Die Menge ist verstummt.
Der Mann:
Warten Sie!
Der Mann vom Bühnenrand folgt dem Fan, sie geben sich lachend die Hände und treten gemeinsam ab. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand löst sich aus der Menge und folgt ihnen schnell. Einige gehen kopfschüttelnd, unverständliche Worte murmelnd zur anderen Seite ab. Die Frau am Bühnenrand wendet sich der in Auflösung begriffenen Gruppe zu, alle schauen verlegen zu Boden. Die beiden Polizisten blicken sich an und treten auf die Frau zu. Die Verbliebenen gehen langsam und mit hängenden Köpfen ab, zwei von ihnen bleiben und setzen sich mit einigem Abstand zueinander auf die Bank.
Polizist 1:
Ich nehme an, Sie wollen bei Ihrer Anzeige bleiben?
Die Frau:
Warum fragen Sie das jetzt? Sie haben doch hoffentlich alles aufgenommen?
Polizist 1:
Ja, die Personalien und ihre Angaben haben wir. Wir möchten Sie aber bitten, in den nächsten Tagen aufs Revier zu kommen, zum Unterschreiben und so weiter. Reine Formsache. Damit alles seine Ordnung hat und die Angelegenheit ihren geregelten Gang geht, wenn Sie verstehen.
Die Frau: (wirkt abwesend)
Ordnung… ja…
Polizist 2:
Oder Sie überlegen es sich anders, dann können wir uns den ganzen Papierkram sparen…
Die Frau:
Überlegen… ja… vielleicht…
Polizist 1:
In dem Fall reicht auch ein kurzer Anruf. Auf Wiedersehen.
Die beiden Polizisten tippen sich beinahe synchron an die Dienstmütze und verabschieden sich von der Frau. Diese sieht noch kurz zur Parkbank, nickt den Beiden zu und tritt ab. Ein blonder Mann und eine junge Frau mit Punkfrisur blicken ihr hinterher.
Licht aus
Begegnung 5
Licht an
Der blonde Mann im mittleren Alter, gepflegt, attraktiv, und die junge Frau mit Piercings und knallroter Punkfrisur sitzen an den jeweiligen Enden der Parkbank. Er hat ein Tablet auf dem Schoß, wischt in regelmäßiger Folge mit seinem Finger darüber, schüttelt immer wieder den Kopf. Die punkige junge Frau schaut ihm schon eine Weile mit wachsender Belustigung zu.
Punk-Mädchen:
Also ich bin schon lange nicht mehr auf Facebook. So langweilig – und nur noch alte Leute. Sorry…
Blonder Mann: (schaut erstaunt hoch und die junge Frau an)
Ich bin auch nicht auf Facebook. Jedenfalls jetzt gerade nicht.
Punk-Mädchen:
Ach… Sah aber echt so aus. Egal, scheint dir nicht zu gefallen, was du da liest.
Blonder Mann:
Ach so, nein, ich schaue mir gerade unsere Webseite an. Licht und Schatten, sag ich Ihnen!
Punk-Mädchen:
Kannst mich auch ruhig duzen. Ist doch Bullshit, die Siezerei.
Blonder Mann:
Sie… ähm… Du sagst es! Auch so ein Traum meiner Jugend, der nicht in Erfüllung gegangen ist. Menschen, die in Frieden miteinander leben, alle gleich, alle per du.
Punk-Mädchen:
Ja, genau: perdu… (lacht) Du warst sicher nie Punk. Siehst eher aus wie einer dieser aalglatten Typen – wie habt ihr die damals genannt?
Blonder Mann: (lacht)
Du meinst die Popper, ne so einer war mein älterer Bruder. Ich war schon raus aus dem Kampf Rock gegen Pop, Disco gegen Punk. Ich mag von jedem was. Also, musikalisch gesehen…
Punk-Mädchen:
Wie langweilig ist das denn? Punk ist eine Lebenseinstellung. Nicht nur Musik. Aber auch. Klar. Mal so richtig gepogt?
Blonder Mann:
Du meinst Pogo tanzen? Das ist doch nur was für Besoffene. Meistens gabs Verletzungen, wenn das mal ausgeartet ist, also bei uns auf den Festen…
Punk-Mädchen:
Meine Fresse! Wenn sich alte Männer schubsen. Weird!
Blonder Mann:
Ja sorry, du hast mich angesprochen… (wendet sich wieder seinem Tablet zu)
Punk-Mädchen (schaut schnippisch zur Seite, dann wieder den Mann an)
Kein Ding. Alte weiße Männer… (lacht) Wie findest du denn Greta?
Blonder Mann: (schaut irritiert hoch und die junge Frau wieder an)
Du meinst diese Kleine, über die jetzt alle reden – Greta Thunberg?
Punk-Mädchen:
Ja, wen denn sonst? Und?
Blonder Mann:
Na ja, nimmt man mal das Marketing und den ganzen Rummel weg, war das schon mal fällig. Überfällig.
Punk-Mädchen:
Überfällig? Was denn?
Blonder Mann:
Dass mal jemand ganz klar sagt, dass es so nicht mehr weitergehen kann, oder?
Punk-Mädchen: (schreit)
Bullshit!
Blonder Mann: (fährt zusammen)
Na hör mal! Was ist falsch daran, den Finger in die Wunde zu legen. Endlich einmal. Und ohne Lobby-Interessen –
Punk-Mädchen: (schreit weiter, stampft mit dem Fuß auf)
Bullshit und nochmal Bullshit! Soll ich dir sagen, warum?
Blonder Mann: (klappt sein Tablet zu, legt es neben sich auf die Bank und wendet sich mit gespieltem Interesse der jungen Frau zu)
Jetzt bin ich aber mal gespannt. Aber komm mir nicht mit „No future“. Das hatten wir alles schon. Ist ein alter Hut.
Punk-Mädchen:
Auch das ist Bullshit. Hast du irgendeinen Beweis dafür, dass die Menschheit Fortschritte macht? Aus altem Scheiß entsteht neuer Scheiß. Bis diese verschissene Welt an sich selbst erstickt. Ihr tut mir leid. Glaubt ihr echt, ihr könnt die Welt retten?
Blonder Mann:
Wer ist „ihr“? Lebst du denn nicht hier? Ist diese herrliche (schaut sich um) Welt denn so beschissen, dass es sich nicht lohnt, sie zu erhalten?
Punk-Mädchen:
Alles vergänglich. Alles krank. Aber fühl dich nur wohl in deinem schönen Leben. Auf der Titanic haben sie auch noch bis zum Untergang gespielt.
Blonder Mann: (bitter lächelnd)
Willst du junges Ding mir etwa erklären, wie das Leben läuft? Willst du mir was vom Tod erzählen?
Punk-Mädchen: (ungehalten)
Jetzt komm mir bloß nicht mit Opa-Geschichten aus dem Krieg!
Blonder Mann: (nimmt sein Tablet)
Von wegen Opa-Geschichten! Jeden Tag hab ich das Weltgeschehen vor Augen. Schlimme Sachen, aber auch ein paar Geschichten, die Mut machen. Ich bin Nachrichtenmann, Redaktionsleiter Online. Seit ich Chef bin, habe ich etwas mehr Abstand zum Stoff, wenn auch nicht genug. Bis vor kurzem habe ich die Welt und ihre Geschehnisse ganz professionell nur nach ihrem Nachrichtenwert betrachtet. Selbst in meiner Freizeit. Hab mich mit Kommentaren unserer User auseinandergesetzt. Mit so viel Bitternis, Hass, aber auch manchem Lob. Wenn nicht am Bildschirm im Büro, dann hier auf dem Tablet. Jetzt kann ich es auch mal beiseite legen, wie du siehst.
Punk-Mädchen:
Oh, wie krass. (lacht hämisch) Dann hast du eben ja sehr gut sehen können, dass das Leben hier draußen genau so tut. Die Frau kann einem ja nur leid tun, oder?
Blonder Mann:
Ja, das kann sie. Aber wir uns auch. Meine Kolleginnen und Kollegen tun mir leid, sie müssen so viel Abschaum im Netz ertragen und trotzdem Haltung bewahren. Manche werden krank darüber. Wenn ich abends mein Tablet weglege, was mir ja leider sehr schwer fällt, spüle ich den Unrat mit einem Glas Rotwein runter. Manchmal auch ne ganze Flasche. Ich weiß, das ist nicht gut. Aber ich weiß auch, dass ich nur so einigermaßen schlafen kann. Morgens wache ich gleich mit den Gedanken daran wieder auf. Und ich weiß genau, dass der neue Tag nur denselben destruktiven Kram bringt. Dagegen können wir anschreiben wie wir wollen. Jede Recherche, und ist sie noch so gut, verpufft in dieser hassgeladenen Welt und vor dem Gleichmut der schweigende Mehrheit. Hast du hier gut sehen können. Niemand hat der Frau geholfen.
Punk-Mädchen: (verächtlich)
Und? Hast du ihr geholfen?
Blonder Mann: (kleinlaut)
Ich wollte gerade –
Punk-Mädchen: (spöttisch)
– dein Tablet weglegen? Wow! Ich sag dir, was du bist: Ein virtueller Weltverbesserer bist du, ein lahmer Laberer! Lame, lame, lame!
Blonder Mann:
Jetzt hör aber mal auf…
Punk-Mädchen:
Was ich sage: Wir werden an unserer eigenen Scheiße ersticken. Ganz egal, wer am Ende das Sagen hat, und sei es die verfickte braune Scheiße.
Blonder Mann:
Und das kümmert dich ernsthaft gar nicht? Du lässt das einfach geschehen? Immerhin versuche ich es noch mit gutem Journalismus. Mit Aufklärung.
Punk-Mädchen:
Und wer liest den Scheiß? Ist doch eh alles egal. Ne, lass mal!
Blonder Mann:
Dann bist du leider auch nicht besser als die braunen Schreihälse. Mit deiner Haltung machst du sie ja sogar noch stärker. Ich dachte, ihr Punks wart mal irgendwie… revolutionär…
Punk-Mädchen:
Ja, irgendwie. (lacht) Wenn schon, dann anarchisch. Punkt.
Blonder Mann: (äfft sie nach)
„Punkt“. Ja genau. Punkt und Schluss. Ende, aus, finito. Das ist alles so einfach, so billig. Noch einmal: Lebst du denn nicht gerne? Magst du nicht die schönen Dinge auf dieser Welt? Den Duft der Blüten, das Singen der Vögel? Vielleicht auch das Meer, die Berge? Bist du schon mal verreist, hast du da nicht gesehen, wie schön die Welt sein kann?
Punk-Mädchen: (verächtlich)
Bullshit. Alles, was du da laberst, lullt dich doch nur selber ein. Hast du mal Nietzsche gelesen? Wusstest du, dass er ein echter Punk war? Nein, das Leben hat keinen Sinn. Das Leben ist Bullshit. Sagt auch Nietzsche.
Blonder Mann:
So einfach? Selbst wenn er das heute so sagen würde, will ich aber gar nicht wissen, was du von Nietzsche weißt, viel wichtiger ist doch, was du selber fühlst. Du bist doch nicht lebensmüde, oder?
Punk-Mädchen:
Quatsch! Ich habe sogar richtig Bock auf das Ganze hier. Zu sehen, wie alles den Bach runtergeht, wie wir alle zusammen die Welt in die Grütze kloppen. Ganz großes Kino! Voll geiler Trash!
Blonder Mann: (resigniert)
Und wieder sprichst du nicht von dir selbst. Von deinem Leben und was es dir bedeutet.
Punk-Mädchen:
Aber hallo! Und du? Was ist denn mir dir so los, du Weltverbesserer? Hä?
Blonder Mann: (schweigt eine Weile, seufzt laut, dann spricht er leise)
Die Wahrheit ist: Ich habe nicht mehr lange zu leben. Vielleicht zwei, drei Monate, vielleicht auch nur noch zwei, drei Wochen. Das ist mit mir los…
Schweigen. Im Park ist es still geworden. Die junge Frau ist erstarrt, sie sieht den Mann an, als sei er bereits tot. Der Mann faltet seine Hände im Schoß und senkt den Blick. Es scheint, als betete er.
Punk-Mädchen: (blickt jetzt betreten zu Boden, dann kleinlaut)
Fuck, fuck, fuck! (hilfesuchend umherschauend) Sorry, das tut mir leid… Echt jetzt… Ich wollte dich nicht… (flüstert nur noch) Sorry…
Blonder Mann: (winkt müde ab)
Lass nur! Du hast nichts getan. Mir tut es leid. Schau: Ich wollte dir das gar nicht sagen. Damit sollte man auch keine fremden Leute konfrontieren. Aber vielleicht hilft es dir ja zu verstehen, dass es auch noch andere Sichtweisen auf die Welt gibt. Und trotz unseres sicheren Todes auch Hoffnung. Ich habe ihn nie aufgegeben, den Glauben an das Gute im Menschen. Auch jetzt nicht. Keine Ahnung, was bei dir schiefgelaufen ist, was dich so enttäuscht und verbittert hat, aber glaub mir: Ganz tief in dir drin, bist du ein guter Mensch – ein Mensch mit viel junger Energie. So bist du auf die Welt gekommen. So entfaltet sich das Leben. Mit Lebenskraft. Nein, auch ich will dir nicht zu nahe treten, aber ich habe doch die Hoffnung, dass dein Nihilismus nur eine vorübergehende Phase ist.
Punk-Mädchen: (immer noch kleinlaut)
Wohl nicht. Aber was weißt du schon von mir? Egal. Ich wünsche dir jedenfalls… Scheiße, was wünsche ich dir denn? (wendet den Blick verzweifelt ab)
Blonder Mann: (lächelt)
Einen guten Abgang vielleicht? Und dass das hier alles nicht ganz umsonst war?
Die junge Frau springt auf, tritt einen Schritt von der Bank weg. Der Mann schaut sie offen an.
Punk-Mädchen: (ringt mit sich)
Sorry… Ich kann das nicht. Ich… (tritt schnell ab)
Der Mann: (ruft ihr hinterher)
Hey, kein Problem! Bleib doch! (leise, zu sich) Hab ein schönes Leben. Lebe! Liebe! Du musst ja nicht gleich die Welt retten…
Licht aus
Ende