Traumgesichte (III): Ostfremd

Welches Hotel? Gute Frage. Da konnte ich meine Unterlagen studieren wie ich wollte, es fanden sich keinerlei Hinweise darauf, wo ich heute Abend absteigen würde. Der erste Messetag für das Fachpublikum war gerade vorbei. Etliche Aussteller hingen noch an der Pilsbar ab. Darauf hatte ich mich auch gefreut, doch jetzt hatte ich ein Problem.

Die Hotels der Stadt würden bis in den Speckgürtel hinein ausgebucht sein, hinzu kamen die Touristen, die Leipzig – zusammen mit den Einheimischen – in diesen ersten warmen Tagen genießen wollten. Die Gastronomie reagierte schnell, die unzähligen Straßenlokale waren bereits am frühen Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Was tun? Ich hatte offensichtlich kein Hotel gebucht. Mir fehlte im übrigen auch jede Erinnerung daran, eines gebucht zu haben. So etwas war mir noch nie passiert.

In aller Frühe war ich gestartet, hatte den ersten Bus zur S-Bahn-Haltestelle genommen und hätte am Hauptbahnhof dennoch fast meinen Zug verpasst. Drei Stunden war ich nach Leipzig unterwegs, zu nah, um zu fliegen, aber zu weit weg, um über Nacht heim zu fahren. Es half nichts, ich musste eine Unterkunft finden. An der Messe-Garderobe ließ ich mir meinen Rollkoffer und meine Jacke geben, ich schulterte die Aktentasche und begab mich mit meinem Gepäck nach draußen. Ein Lounge-Sofa war frei, schnell steuerte ich darauf zu und ließ mich hineinplumpsen. Auf meinem Smartphone googelte ich nach den Nummern der einschlägigen Hotels in Leipzig, vielleicht hatte ich ja Glück…

Nach ungefähr dreißig Anrufen und einem fast leeren Akku war ich ernüchtert. Wie befürchtet, war nirgendwo mehr ein Zimmer frei. Selbst die durchaus ernst gemeinte Frage nach einer Besenkammer quittierten die meisten Rezeptionisten mit einem gelangweilten Lachen. Seufzend steckte ich das Handy weg. Ich erhob mich und blickte mich um. Die Umgebung vor der Halle war jetzt fast menschenleer, das Personal mit Aufräumen beschäftigt. Dort drüben stand noch ein einzelnes Taxi. Das war es! Taxifahrer hatten doch immer einen Geheimtipp auf Lager. Einen Versuch war es wert. Beim Auto angekommen, schwand meine Hoffnung gleich wieder: ein arabisch aussehender Mann mittleren Alters saß am Steuer, in der Hand eine Kette. Betete er etwa? Egal, ich öffnete die Tür. Der Taxifahrer reagierte erst gar nicht, sodass ich mich verlegen räusperte.
„Entschuldigen Sie, wissen Sie zufällig, wo ich in dieser Stadt heute noch ein Zimmer kriegen könnte?“
Der Mann drehte ganz langsam den Kopf zu mir, sah mich aber nur kurz an, um sich gleich darauf wieder seiner Kette zuzuwenden. Ich wollte schon protestieren, da sah ich, wie er sie in der Mittelkonsole verstaute.
„Steigen Sie ein!“, sagte er mit heiserer Stimme. Ich deponierte mein Gepäck auf der Rückbank. Kaum hatte ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen, startete der Taxifahrer den Motor.

Als wir die Stadt verließen, wurde ich unruhig. Zunächst hatte ich mich zurückgehalten, war einigermaßen hoffnungsvoll, der Fahrer hätte ein festes Ziel im Blick. Doch jetzt schwand mein Vertrauen. Wohin fuhren wir? Und wieso war es eigentlich so stickig im Auto? Die Klimaanlage stand auf „Off“, obwohl die Cockpitanzeige 25 Grad Außentemperatur anzeigte. Hier drin war es bestimmt noch heißer.
„Wo fahren Sie mich hin?“, wollte ich wissen, während ich hektisch meinen Schlipsknoten lockerte und den obersten Hemdknopf öffnete. Schweiß rann mir vom Nackenhaar in den Kragen.
„Sie wolle Zimmer? Ich weiß Zimmer. Aber nicht in Leipzig. Müsse fahre raus aus Stadt.“ Der Mann hatte stur geradeaus geschaut, während er sprach.
Ich nickte, was ich mir auch hätte sparen können. Auf dem Taxameter standen bereits weit über 30 Euro. Eine teure Überlandfahrt war jetzt eigentlich auch nicht ausgemacht.
„Ist es denn noch weit bis dorthin?“, fragte ich nach einer Weile und weiteren bangen Blicken auf die Taxi-Uhr.
„Gleich da“, murmelte der Fahrer.
Ich sah aus dem Fenster, Bäume huschten in schneller Folge vorbei. Irritiert blickte ich wieder nach vorne. Im nächsten Moment wurde ich in den Gurt gedrückt, das Auto bremste und bog in einen Feldweg ein. Offenbar waren wir fast da, doch ich konnte nicht behaupten, dass ich ruhiger wurde. Kurze Zeit später kam der Wagen zum Stehen.

„So, sind da.“ Der Fahrer holte eine Geldbörse hervor. Ein Hauch von Vanille stieg in meine Nase. Auf dem Taxameter war der Betrag von 47,80 Euro zu lesen. Ich kramte meinen Geldbeutel hervor und reichte dem Mann einen Fünfziger. Er verstaute den Schein und wartete, dass ich ausstieg. Ich sah nach draußen. Moment mal! Hier war kein einziges Haus zu sehen, wir befanden uns immer noch auf dem Feldweg, rechts und links davon Äcker, auf denen nichts wuchs außer vertrocknetes Unkraut.
„Müsse etwas gehen. Nicht weiterfahre. Nicht gut für mich.“
„Wie jetzt? Was soll das denn heißen? Ist da jetzt eine Unterkunft für mich oder nicht?
„Für Sie ja. Nicht für mich. Wolle keine Ausländer da.“
Jetzt sah ich Unbehagen in seinen Augen, wenn nicht sogar Angst.
„Habe Vertrauen. In zweihundert Schritt komme Haus. Dort Zimmer.“
Missmutig vergegenwärtigte ich mir meine Situation. Was sollte ich denn machen? Warum sollte nicht stimmen, was der Mann sagte? Aber selbst wenn: Wollte ich bei solchen Leuten wohnen? Ich machte mir nicht viel aus Politik, aber ich hasste Fremdenhass. Rassisten waren mir zuwider, auch wenn ich sie bisher nur aus den sozialen Netzen kannte. Hier würde ich sie wohl leibhaftig treffen. Aber hatte ich eine Wahl?
„Musse kein Angst haben.“ Der Fahrer lächelte mir jetzt sogar aufmunternd zu. Schweren Herzens stieg ich aus, nahm mein Gepäck von der Rückbank. Kaum hatte ich die Türen geschlossen, setzte der Wagen zurück, bog in eine Feldzufahrt ein und fuhr mit einer großen Staubfahne davon.

Da stand ich nun. Die Sonne ging bald unter. Also machte ich mich auf den Weg zu dem Waldstück. Wenn der Fahrer nicht gelogen hatte, musste hinter der Kurve wieder Zivilisation kommen. Zivilisation? Na mal sehen… Der Koffer ließ sich nur schwer über den sandigen Feldweg ziehen. Ich erreichte dennoch rasch die bewaldete Kurve – und tatsächlich: Der vermeintliche Wald entpuppte sich nur als ein schmaler Saum von Bäumen, gleich dahinter stand links schon das erste Haus, eine Scheune. Weiter hinten folgten Wohnhäuser, etwa zehn an der Zahl. An einem hing ein Schild, das musste die Pension sein. Als ich mich ihr näherte, flammte ein Scheinwerfer auf. Das grelle Licht über dem Eingang blendete mich so sehr, dass ich ruckartig den freien Arm hochriss. Hundegebell erklang, tief und bedrohlich, dann ein Knurren. Ich hasste Hunde, sie machten mir Angst. Im nächsten Moment schlug das Tier an, sprang am Maschendrahtzaun eines kleinen Gartens hoch, kam aber zum Glück nicht annähernd an den oberen Rand. Der Garten schien komplett eingezäunt zu sein. Ich atmete tief durch und drückte die Klinke der verwitterten Tür herunter. Als sich diese öffnete, erklang eine altmodische Glocke. Drinnen war es schummrig, meine Augen mussten sich erst an die Dubnkelheit gewöhnen. Und doch entging mir nicht, dass ein Tier in den Raum trat – ein Schäferhund. Knurrend und zähnefletschend kam er auf mich zu.

„Aus!“ Die männliche Stimme duldete keinen Widerspruch. Der Hund fiepte und verschwand mit gesenktem Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. Eine Gestalt erhob sich aus einer Sitzgruppe an der rechten Seite des Raumes. Dann ging auch das Deckenlicht an. Vor mir stand ein mittelgroßer Mann von kräftiger Statur. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig. Sein braunes Haar war seitlich kurzgeschoren, oben auf dem Kopf etwas länger, es glänzte pomadig. Der Mann blickte auf die Uhr.
„Da haben Sie aber Glück, junger Mann! Fünf Minuten später und Sie hätten vor verschlossenen Türen gestanden. Ich nehme an, Sie benötigen ein Zimmer, richtig?“
Ich bejahte und zeigte auf mein Gepäck.
„Ja ja, lassen Sie mich raten: Messebesucher, der es versäumt hat zu buchen.“
„Aussteller, ich bin Anbieter, kein Besucher. Aber ja, Sie haben recht. Ist mir noch nie passiert… “
„Wie sind Sie denn ausgerechnet hierher gekommen?“ Der Mann hob die rechte Augenbraue und musterte mich streng.
„Ein Taxifahrer kannte das hier. Wie heißt dieser Ort eigentlich?“
„So so, ein Taxifahrer.“ Der Mann schüttelte unmerklich den Kopf. „Gibt es also immer noch ein paar Unbelehrbare. Gleich morgen werde ich mich bei der Innung beschweren.“
Ich verstand nicht. „Wieso beschweren? Wollen Sie denn keine Gäste und gibt es hier gar keine Fremdenzimmer?“
„Fremdenzimmer?“ Der Mann spuckte das Wort förmlich aus. Er wirkte plötzlich ungehalten, stand mit geballten Fäusten vor mir. Sein Gesicht war blass geworden, seine Unterlippe zitterte. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen?“ Jetzt schrie er mich an. „Glauben Sie, Sie in Ihrem feinen Zwirn sind was Besseres?“
„Na hören Sie mal… Haben Sie jetzt ein Zimmer für mich oder nicht?“
Der Mann starrte noch immer wütend auf mich, dann lockerten sich seine Fäuste, auch sein Körper entspannte sich. Er ging auf einen alten Sekretär zu und öffnete den oberen Rolladen.
„Kommen Sie her. Hier unterschreiben!“ Der Mann wies auf ein leeres Blatt Papier.
„Eine Blanko-Unterschrift? Wollen Sie mich veräppeln?“
„Wieso sollte ich Sie verkackeiern? Unterschrift gegen Schlüssel. So oder gar nicht.“ Der Mann hielt jetzt ein hellbraunes Stöckchen in der Hand, an dem ein altmodischer Schlüssel baumelte. Bei näherem Hinsehen erwies sich der Anhänger als Knochen. Ekel stieg in mir hoch. Wo war ich hier nur gelandet?
„Die Brause ist leider kaputt, aber der Wasserhahn am Waschbecken geht. Frühstücken ist nicht. Wir sind hier nicht mehr auf Gäste eingestellt.“
Ich seufzte, unterschrieb und griff nach dem Schlüssel. Der Mann zog ihn noch einmal weg. „Und dass Sie hier keinen Budenzauber machen. In einer Stunde ist Nachtruhe, da will ich keinen Mucks mehr hören, verstanden?“
„Okay, okay.“ Ich war ohnehin müde. Bestimmt würde ich schnell einschlafen. Und morgen würde sich schon noch was anderes finden. Dachte ich.

Zimmer war weitaus übertrieben, das hier war nicht mehr als ein Loch, das im Licht der nackten Deckenbirne fast schon wie ein Kerker wirkte. Außerdem stank es nach Kloake. Ich wollte lüften, doch das Fenster war klein und ließ sich nicht einmal öffnen. Es klopfte an der Tür, gleich darauf trat der Mann ein und stellte eine Karaffe mit Wasser und ein fleckiges Glas auf den wackeligen Tisch neben dem Bett, das seinem Namen auch keine Ehre machte, denn es bestand nur aus einer Matratze auf Paletten. Darauf eine grobe Wolldecke und ein Kopfkissen mit löchrigem Bezug.
„Ich hab Ihnen gesagt, dass wir hier nicht mehr auf Gäste eingestellt sind. Hier übernachten allenfalls noch Streuner, arme Schlucker, die nichts mehr haben. Man ist ja kein Unmensch. Immer noch besser als nichts, nicht wahr? Gute Nacht!“
„Moment bitte!“
„Was denn noch?“
„Wie viele Menschen leben hier in… Sie haben mir immer noch nicht verraten, wo ich hier eigentlich bin.“
„Hat Ihnen das Ihr Taxifahrer nicht gesagt? Der Name tut nichts zur Sache, sie werden die paar Höfe hier auf der Karte auch nicht finden. Offiziell gibt’s uns nämlich gar nicht.“
Eine Geisterstadt also, ich musste lächeln, dachte unwillkürlich an einen schlechten Western.
„Grinsen Sie nur. Uns gefällt es hier. Wir sind die Unbeugsamen. Uns hat man hier nicht vertreiben können. Wir haben uns gewehrt.“
„Meinen Sie die DDR? Wollte man Sie umsiedeln?“
„Quatsch mit Soße! Die Deutsche Demokratische Republik war ja noch gold gegen die Schweinebande, die sich Bundesregierung nennt.“ Der Mann hatte seine Stimme wieder erhoben, sein Körper zitterte.
„Umvolken wollte man uns! Jawohl!“, schrie er. Ich rieb mir unwillkürlich das rechte Ohr. Der Mann hieb mit der Faust gegen die Tür. „Wissen Sie, wie das ist, wenn plötzlich ein ganzer Bus vor deinem Haus steht? Nein, nicht mit Touristen. Terroristen waren das! Nannten sich Flüchtlinge, sollten hier bei uns unterkommen. Hatte das Land verfügt. Aber die sollten uns kennenlernen, das sag ich Ihnen!“
Jetzt fiel es mir wieder ein. Solche Szenen hatte ich vor ein paar Jahren in den Nachrichten gesehen. Männer, Frauen und sogar Kinder mit Heugabeln, Stöcken und anderen Gerätschaften stellten sich einem Bus in den Weg, schrien ausländerfeindliche Parolen. Die Menschen im Bus, unter ihnen ebenfalls Kinder, hatten angstverzerrte Gesichter, viele weinten. Vom Regen in die Traufe, dachte ich damals fassungslos, doch meine Betroffenheit währte nicht lange, zu viel war los in diesen Zeiten, die ganze Republik in Aufruhr.
„Diese Menschen kamen direkt aus dem Krieg, sind dem Terror doch selber nur knapp entronnen…“, wandte ich ein. Ich hatte meinen Satz noch nicht beendet, da trat der Mann einen Schritt auf mich zu und hob drohend die rechte Hand.
„Wollen Sie die etwa noch verteidigen, Sie Sesselfurzer? Nehmen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie! Solche wie Sie brauchen wir hier nicht. Genauso wenig wie das Dreckspack, das man uns aufhalsen wollte.“ Der Mann trat zur Seite und zeigte zur Tür. „Raus! Aber sofort!“

Verdattert griff ich nach meinen Sachen und stolperte den schmalen Flur entlang in Richtung Haustür. Ich hatte die Klinke bereits in der Hand, da knurrte erneut der Hund hinter mir. Jetzt rechnete ich nicht mehr mit einem Befehl von seinem Herrchen. Ich schaffte es gerade noch hinauszuschlüpfen, bevor der Hund mit Wucht gegen die Tür sprang, die mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. An der Fensterscheibe erschien das wutverzerrte Gesicht des Mannes. Schnell verschwand ich aus seinem Blickfeld, hinaus in die Dunkelheit. Ich folgte dem Weg, den ich gekommen war. Zum Glück war es warm, ich beschloss, an der nächstbesten Stelle, irgendwo im Schutz eines Baumes oder Strauches, zu übernachten. Im Morgengrauen würde ich mir ein Taxi rufen. Aber wohin sollte ich es bestellen? Wo war ich? Und wie zum Teufel konnte ich ein Taxi rufen, wo doch mein Handy leer war, wie ich mit einigem Ärger feststellte. Würde ich eben per Anhalter fahren. So menschenleer die Landschaft jetzt schien, so verlassen würde sie morgen sicher nicht sein. Dort hinten musste die Hauptstraße sein, die Allee. Vielleicht fand sich da ja auch eine Bushaltestelle, versuchte ich mir Mut zu machen. Doch ich ahnte, dass ich hier im Osten nicht damit rechnen konnte.

Moment mal. Waren das Lichter? Ich traute meinen Augen kaum, doch je näher ich kam, desto klarer wurde das Bild. Genau betrachtet, handelte es sich um ein einzelnes Licht. Die Umrisse wurden schärfer. Ich näherte mich einem Auto, dessen Innenraum schwach beleuchtet war. Vorne links auf dem Fahrersitz war eine Gestalt zu erkennen. Mein Herz machte einen Freudensprung: Dort stand tatsächlich das Taxi, das mich an diesen unglückseligen Ort gebracht hatte. Aber was machte es noch hier? War der Fahrer etwa überfallen worden? Etwas bang trat ich an die Fahrertür heran – und atmete auf. Der Mann schlief nur. Sanft klopfte ich gegen die Scheibe, um ihn nicht zu erschrecken. Er zuckte trotzdem zusammen, blickte mich mit großen, dunklen Augen an. Dann lachte er und ließ die Scheibe herunter.
„Bitte einsteigen. Fahren zu mir. Sein mein Gast.“

©Martin Bensen