Immer weniger feine Tröpfchen kamen vom Meer zu ihr hoch. Dafür war der Wind gnädig, trieb die kleine Wolke nicht mehr weiter auf die großen Geschwister zu, die im Osten träge umeinander schwebten, sich zur Abendbewölkung formierten. Im Westen ließ die Kraft der Sonne nach.
Ein Strahl fiel jetzt auf die kleine Wolke, ließ sie golden aufleuchten. „He, Schwesterchen, du siehst ja fein aus.“, kam es vielstimmig aus dem grauen Wolkenhaufen. „Willst wohl was Besseres sein? Auch wenn du gerade so scheinst, du wirst niemals eine Sonne sein!“ Das Gelächter störte die kleine Wolke nicht, sie fühlte sich leicht und schön. Ob die Menschen dort unten sie jetzt wohl sahen? Vielleicht waren sie ja überrascht von der zweiten Sonne am Himmel. Und womöglich machte jetzt jemand ein Foto von ihr – hielt ihren schönsten Moment für die Ewigkeit fest.
Das Gelächter war verstummt, drüben gab die Sonne noch einmal alles, wechselte von Gold ins Rötliche. Die kleine Wolke glühte jetzt wie Feuer. Lustvoll spreizte sie ihre Bläschen nach außen, voller Übermut plusterte sie sich zu einem Ball auf. Die Sonne grinste. Und dann geschah das Unvermeidliche: Die rotglühende Kugel explodierte – nach allen Seiten hin stoben die Wassertröpfchen auseinander, um im nächsten Moment als feiner, glitzernder Regen zurück ins Meer zu rieseln. Die Sonne aber zeigte ihr schönstes Lächeln, zwinkerte den Abendwolken freundlich zu und verneigte sich vor der Nacht.
Martinique, Januar 2018