Begegnung

Wieder steht er da, der weiße Hyundai mit der blonden Frau hinter dem Steuer. Wie immer bin ich etwas früher dran, habe mein Auto schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite geparkt. Wie die Abende zuvor schaut sie zu mir rüber, schaue ich sie an, wendet sie sich wieder ab, wende ich mich ab, schaue ich wieder hin, während sie auch schon wieder her schaut. Ist das ein Flirt? Es ist dunkel hier am Werkstor, die Neonlichter aus den längst verlassenen Großraumbüros blenden. Ich kneife die Augen zusammen – doch ich bin mir sicher: Jetzt schaut sie wieder zu mir rüber. Ganz ungeniert. Ich muss lächeln, wende mich ihr zu, da dreht sie sich wieder weg. Wie alt mag sie sein? Ist sie hübsch? Aber ich kann ja nicht mal ihre Augen sehen, das Gesicht bleibt im Dunkeln.

Seit fünf Tagen stehen wir immer zur selben Stunde hier, bereit jemanden abzuholen. Ich weiß, auf wen sie wartet. Immer um Punkt elf kommt ein Mann mit langen dunklen Haaren – sein Alter kann ich schlecht schätzen – aus dem Drehkreuz, nähert sich zügig dem weißen Hyundai mit der Blondine, während die schon den Motor gestartet hat. Kaum dass er sitzt, fährt sie auch schon los. Und würdigt mich keines Blickes mehr. Auch gut.

Doch jetzt steht sie da noch, schaut sie wieder rüber. Will sie mich verunsichern? Was ist das für ein Spiel? Jetzt lasse ich es darauf ankommen: Drehe mich hinter meinem Lenkrad in ihre Richtung und starre angriffslustig hinüber. Doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann ihr Gesicht nicht richtig erkennen. Sie wirft ihr schulterlanges Haar zurück, schaut in den Spiegel ihrer Sonnenblende. Nein, noch ist es nicht so weit. Noch fünf Minuten bis Arbeitsende.

Jetzt geht die Tür des Hyundais auf. Ich erstarre. Sie steigt aus, kommt auf mein Auto zu. Kein Zweifel, sie meint mich, klopft gegen die Scheibe. Ich öffne das Fenster. Jetzt sehe ich ihr Gesicht, ein schönes Gesicht. Es nähert sich meinem – ohne ein Wort zu sprechen, schaut sie mich an, ihr Mund ist ganz dicht an meinem. Will sie mich küssen? Dann knallt eine Tür zu. Ich schrecke auf. Die Frau ist verschwunden. Nicht ganz: Sie hat den Motor gestartet, fährt jetzt an und dann, nur einen kurzen Moment, während sie an mir vorbeifährt, zwinkert sie mir zu, formt ihre Lippen zu einem Kuss – und ist weg.

Morgen Abend werde ich aussteigen.

©Martin Bensen